„Warum soll ich…“

Die verweigerte Orientierung oder: Schlechte Vorbilder verderben gute Sitten

Dürfen wir uns vor der Frage drücken, ob wir das, was wir von anderen fordern, genauso von uns selbst verlangen? Werden positive Verhaltensmuster wie gemeinsam getroffene Abmachungen einhalten, zuhören, sachlich diskutieren, Mut zeigen, Zeit haben, Geduld üben, auf Schwächere Rücksicht nehmen auch vorgelebt?

von Gerlinde Unverzagt

Vierzehnjährige Schülerinnen und Schüler haben im Unterricht bereits einiges darüber erfahren, was die Demokratie im Innersten zusammenhält, mit Tortengrafiken hantiert und gelernt, die Namen politischer Instanzen richtig auszusprechen. Dann sollen sie über den Besuch in einem der Maschinenräume der Demokratie einen Einblick in die Praxis des politischen Alltags erhalten. So auch die Klasse 9a der Berliner Heinrich-Ferdinand-Eckert-Oberschule aus Friedrichshain-Kreuzberg, die den preußischen Landtag in der Niederkirchnerstraße besuchte. Und sie zeigte sich so beeindruckt, dass sie gleich einen Brief an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses geschrieben hat. Darin hieß es: „Die Respektlosigkeit der Abgeordneten gegenüber denjenigen, die ihr Anliegen am Mikrofon vortrugen, war für uns erschreckend.“

Die Abgeordneten hatten bei den Schülerinnen und Schüler verheerend schlechte Eindrücke hinterlassen. „Wer aber die Bürgergesellschaft fordert, in der sich mehr Menschen für die gesellschaftlichen Probleme interessieren und engagieren, der sollte sich zunächst an die eigene Nase fassen“, betont Jens Anker, der das Ereignis im Berliner „Tagesspiegel“ kommentiert, und weist auf die Vorbildrolle hin, die ein Volksvertreter übernimmt. „Statt zu fordern, müssen die Abgeordneten vorangehen“, findet er und zitiert den gerade aus dem Abgeordnetenhaus ausgeschiedenen Politiker der Grünen, Wolfgang Wieland: „Das Niveau der Politiker ist seit Jahren gleich bleibend schlecht, aber sie haben es sich selbst zuzuschreiben.“ Negative Vorbilder wirken stärker als gute; ganz ohne böse Absicht drücken sie den Standard nach unten.

Wo gibt es noch Vorbilder?

Das Bedürfnis nach Maßstäben für Verhalten ist so lebendig wie eh und je und hängt sich als gesteigerte Aufmerksamkeit auf exponierte Zeitgenossen wie der Schweif an den Kometen. Niemand hat sich jemals ganz und gar selbst erfunden. Persönlichkeiten entstehen durch Nachahmung und Abgrenzung von anderen. Vorbilder sind nicht mehr als an bestimmte Personen gebundene Bilder, die einem Individuum dabei helfen, sein Verhalten zu orientieren. Die Milieus, in denen klassische Vorbilder gedeihen, sind jedoch verschwunden und mit ihnen das System, in dem Werte, Haltungen und Lebensformen schlicht vererbt oder sehr bewusst vorgelebt werden. Statt dessen hat heute jeder Mensch ein Umfeld, das ihn prägt oder einen Kontext, in dem er sich bewegt: sie bestehen aus Leuten, die man kurz kennen lernt und wieder vergisst, aus Leuten, die man beobachtet und deren Verhalten einem entweder gut gefällt oder total unangenehm aufstößt. Es besteht – neben lebenden Menschen – auch aus Fernsehschnipseln, Filmfetzen und Resten zufälliger Begegnungen.

Jenseits des wie auch immer begründeten Anspruches auf Führung gibt es heute immer noch einzelne oder Gruppen von Menschen, auf denen die Augen der anderen ruhen, und sei es nur über die Mattscheibe vermittelte Aufmerksamkeit. Ob Elite oder nur Exponat sei dahingestellt, aber bestimmte Gruppen oder Individuen wirken als orientierende Vorbilder, ob sie wollen oder nicht und eben auch, wenn sie es nicht sind. Vorbild ist man nicht, sondern man wird dazu gemacht: wer Erzieher/in oder Lehrer/in, Politiker/in oder Führungskraft ist, wird kaum verhindern können, dass andere ihn/sie zum Vorbild nehmen – nach eigenen Kriterien, allen voran wahrscheinlich Glaubwürdigkeit. Vor allem Politiker/innen versprechen viel und halten (fast) nichts. Kein Wunder, dass das Volk den Eliten nicht mehr über den Weg traut. Kann daran das Volk allein schuld sein? Die Elite hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, das den Trend des Unbehagens über die Zustände immens verstärkt.

Erst selbst vorleben, dann einfordern

Wo können die Menschen Orientierung finden für die Zukunft ihrer Gesellschaft? Im Großen wie im Kleinen funktioniert das Lernen am Modell: Kinder sind am meisten abhängig von der Vorgabe eines idealisierten Vaters oder einer idealisierten Mutter: „Ich mache es, nicht weil ich es für richtig halte, sondern weil er es vormacht.“ Oder: „Ich mache es nicht, wenn der andere es auch nicht macht.“ Die mühevolle Anstrengung herauszufinden, was man selbst eigentlich für richtig hält, zu welchen Werten man sich bekennen möchte, kommt erst mit den Jahren in Schwung – wenn sie kommt. All das Vergleichen, das Abwägen von Vorzügen und Nachteilen, das Rechtfertigen von Zielen, Wegen, Überzeugungen beschreibt einen langwierigen Prozess, in dessen Verlauf nicht nur Selbstverantwortung wächst, sondern auch die Fähigkeiten entstehen, eine Auswahl zu treffen, zu eigenen Entscheidungen zu finden, das eigene Verhalten steuern zu können. Wer von guten Vorbildern abhängt, hängt auch von schlechten ab – das ist die Botschaft hinter dem trotzigem Verweis auf Versäumnisse anderer Leute, die einem erlauben, sich selbst auch nicht anstrengen zu müssen, um es besser zu machen.

„Warum soll ich freundlich, höflich und zuvorkommend sein, wenn andere mich nur anraunzen?“
Im Großen wie im Kleinen funktioniert das Lernen am Modell.

Einfache und klare Regeln erleichtern - einer Wegmarkierung vergleichbar - die Orientierung.

Bringschuld der Erwachsenen

Der Mechanismus mit dem Verweis auf den anderen, der sich auch nicht besser benimmt, bleibt der gleiche, auch wenn der Kreis sich über die Familie hinaus erweitert: bei allen Erziehenden und später auch anderen Erwachsenen sind Kinder zuallererst dabei, das beobachtete Verhalten auf Glaubwürdigkeit zu durchleuchten und den Erwachsenen eine Art Bringschuld an Vorbildhaftigkeit anzutragen. „Und dabei macht er selbst das ja gar nicht!“ entfaltet im Grundschulalter als Argument noch lange allerhöchste Überzeugungskraft, um irgendetwas nicht zu tun – sogar bis weit ins Berufsleben hinein: Selbst Mitarbeiter, die größten Wert auf ihre Eigenständigkeit legen, verweisen gerne: „Sollen die Bosse, der Vorstand, die da oben das erst mal vorleben!“ Gerade bei schlechten Vorbildern zieht der Verweis auf die Nachbarabteilung, die sich ja auch nicht an die Vereinbarung hält. Etwa: „Wenn der sich nicht an die Spielregel hält, muss ich es auch nicht tun.“

So birgt die Forderung nach Vorbildhaftigkeit eigentlich nur den Wunsch, nicht selbst verantwortlich sein zu wollen. Wieder einmal muss zuerst der andere sich ändern, bevor man selbst auch nur darüber nachdenkt, sein Verhalten zu korrigieren. Warum soll ich freundlich, höflich und zuvorkommend sein, wenn andere mich nur anraunzen? Warum soll ich meinen Dreck wegräumen, wenn andere ihren Müll achtlos in die Landschaft kippen? Warum soll ich jemanden ausreden lassen, der mir dauernd ins Wort fällt? Besonders das schlechte Vorbild liefert eine argumentative Allzweckwaffe, um selbst überhaupt nichts tun zu müssen – das ist der eigentlich schlechte Einfluss, der von schlechten Vorbildern ausgeht.

Ärger über Muster ohne Wert

Das Volk ist genauso wenig dumm wie die Kreuzberger Neuntklässler, die das Erlebte mit Verhaltensstandards vergleichen, die man ihnen abzuverlangen pflegt. In ihrer Empörung schwingt viel produktiver Ärger über die verweigerte Orientierung mit; auf der Suche nach einem Modell sind sie auf ein Muster ohne Wert gestoßen: Man sieht doch sofort, wer im Glashaus sitzt und mit Steinen schmeißt. Und wenn das nicht, dann liest man jeden Tag in der Zeitung oder hört in den Nachrichten, wer den Hals nicht voll kriegt, wer für die gemeinsame Sache oder bloß auf eigene Rechnung unterwegs ist, wer über die Jugend ohne Tugend lamentiert und über den Dreck vor der eigenen Tür hinwegsieht, wer Respekt verlangt und Ruppigkeit vorlebt. Schlechte Vorbilder bergen genau deshalb epidemische Gefahren: sie leisten der Passivität Vorschub, indem sie einfach einen bequemen Grund dafür liefern, die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen achselzuckend abzugeben – „macht doch jeder!“

Das haben wir dann davon: eine Gesellschaft, in der jeder zusieht, wo er bleibt. Und alles mitnimmt, was noch zu kriegen ist, sich dabei einen Teufel um die Belange des anderen schert. Ohne Vertrauen in „die da oben“ fehlt aber auch der Anreiz, etwas zu verändern – ohne die Art guter Vorbilder fehlt uns was. Und ohne Glaubwürdigkeit, Bescheidenheit und Pflichtgefühl für das Ganze ist keine Führungskraft eine wirkliche Führungskraft, weil ihr die Masse kein Vertrauen entgegenbringt – Elite ohne Tugend funktioniert nicht und schadet nur: Sie gibt kein Vorbild ab, nimmt aber einen über jedes Vorbild hinausreichenden Einfluss, weil sie sozusagen die Preise verdirbt: Warum sollte ich es besser machen als alle anderen – dieser Gedanke lähmt jeglichen Veränderungswillen und versetzt das Bewusstsein für die eigene Verantwortung in Tiefschlaf. Zusätzliche Schärfe gewinnt dieses Ausweichmanöver noch dadurch, dass sich soziale Umgangsformen zum überwiegenden Teil sprachlos übermitteln; sie wirken als stillschweigender Kontext, der erst in der Verletzung thematisiert wird.

Der Sehnsucht nach dem Besseren Nahrung geben

Verträgliche Umgangsformen sind ein Bollwerk gegen die Übergriffe, die das Gesetz nicht erfasst. Die Botschaften der Wasserprediger und Weintrinker aber vermitteln, dass es in Ordnung ist, nichts zu tun, solange die anderen nichts tun. Auch deshalb wird es für junge Menschen immer schwieriger, sich zu orientieren – das Wenige übernimmt man aus der Anschauung, und die ist beliebig. Vorbilder im Sinne der vermissten Fähigkeiten und glaubwürdigen Haltungen sind allerdings viel seltener anzutreffen, und sie drängen sich nicht so auf wie die schlechten Beispiele, die eher Schule machen. Gute Vorbilder kommen auf leisen Sohlen daher, und sie wirken anders – nicht schnell, aber lange: der erste Ort im Leben, in dem Menschen einander kennen, nahe stehen, zuhören und helfen, voneinander lernen und aufeinander achten, ist die Familie, in der sie aufwachsen. Ganz gleich wie ihr Zuschnitt aussieht, die Familie ist der Ort, wo Kinder erstmals erfahren, dass eine Ordnung ihnen selbst dient und dass die gegenseitige Wachsamkeit ihnen hilft, dieser Ordnung zu genügen – oder auch nicht. „Das Sich-Melden, wenn man in der Versammlung zu Wort kommen will, das Einhalten der Redezeit, das Schlangestehen beim Essenfassen, das Einfordern der Regel: Du, wir hatten vereinbart... Bitte halte dich daran!“ zählt Hartmut von Hentig ein paar Erwachsenentugenden auf, die in der Kinderstube wurzeln und im Klassenzimmer wachsen sollen, „das ist allemal wirksamer als die Erinnerung an allgemeine Gebote, als ein Konsens über aufgezählte, besondere Werte.“ Wirksamer als das bewusste, absichtsvolle und aus pädagogischen Gründen inszenierte Vorbild wird eine Haltung sein, die imstande ist, der Sehnsucht nach Besserem Nahrung zu geben. Wer sonst sollte sich auch eine bessere, angenehmere und freundlichere Welt vorstellen können und sie wollen, als derjenige, der eine ungefähre Ahnung davon über die Erfahrungen am eigenen Leib gewonnen hat?

Menschen brauchen Vorbilder, vor allem wenn sie jung sind und nach Orientierung suchen. Denn sie werden nicht von abstrakten Erkenntnissen ermutigt, sondern vom Stoff des Lebens selbst: von Männern und Frauen, die ihnen vorleben, was möglich und wünschenswert ist und was nicht.

Vorbildliche Belehrung durch eindringliche Benennung? „Das bringt nichts“, sagt Hartmut von Hentig. Er setzt dagegen auf: „Zusammenleben, Vorbild und bewusst gemachte Erfahrung.“ Klingt gut. Doch was, wenn wir Erwachsenen darauf verzichten zu überprüfen, was für eine Art Leben wir im Begriff zu führen sind?

Gerlinde Unverzagt, Autorin von „Supermuttis – Eine Abrechnung mit den überengagierten Müttern“ (2008), lebt als freie Journalistin in Berlin. E-Mail: unverzagt@snafu.de