Die neue Strenge
Konfrontation statt Gummiwand
Begriffe wie Autorität, Disziplin und Strenge - bis vor kurzem noch tabu - werden nun wieder offen diskutiert. Das überrascht aber nur jene, die nicht sehen und hören wollen, dass es in vielen Schulklassen drunter und drüber geht und dass Eltern, Lehrer/innen und Kinder überfordert sind.
von Heinz Zangerle
Zunehmend gibt es Disziplinprobleme, weil Erwachsene sich nicht mehr trauen, Kindern konstruktiven Widerstand entgegenzusetzen und wenn nötig Unterordnung und Anstrengung zu verlangen. Schließlich brauchen Kinder statt des allzeit freundlichen Kumpel-Lehrers mit dem Habitus des immer alles verstehenden Über-Psychologen oft gerade das Gegenteil: Den/die bewusst konturiert – authentische(n) Gegenspieler/in.
Der Beitrag versteht sich keinesfalls als Plädoyer für einen dumpf-autoritären Umgang mit Kindern! Vielmehr geht es um die entwicklungsfördernden Aspekte wohlmeinender Strenge und darum, zur Diskussion über pädagogischen Hausverstand und natürlichen Umgang mit Kindern anzuregen.
„Sind Sie streng?!“
Mit seinem 2006 erschienenen Bestseller „Lob der Disziplin“ hat Bernhard Bueb, langjähriger Leiter eines deutschen Eliteinternates, zuletzt den Nerv gegenwärtiger Pädagogik getroffen. Seine Forderung nach Disziplin und seine Empfehlung zu mehr Strenge in der Schule hat eine scharfe Debatte ausgelöst. Während die einen erleichtert eine längst fällige Diskussion begrüßten, sprachen andere von „Kasernenhofpädagogik“. In einem postwendend von Micha Brumlick herausgegebenen Sammelband („Vom Missbrauch der Disziplin“, 2007) wird Bueb vorgeworfen, Vorschläge für eine Welt zu machen, die es schon lange nicht mehr gibt. Aus neurowissenschaftlicher Sicht schloss sich Joachim Bauer der Kritik an Bueb an (in: „Lob der Schule“ 2007).
Allerdings hat sich der Abschied von der liberal-egalitären Beziehungskultur der letzten Jahrzehnte schon vor Bueb in pädagogischen Fachzeitschriften abgezeichnet. „Sind Sie streng?“ fragte beispielsweise Michael Felten in der renommierten Zeitschrift „Pädagogik“. Er konstatiert darin in der Schule von heute ein Zuviel an Kind-Orientierung und betont den Stellenwert von Abstand und Differenz in der Lehrer-Schüler-Beziehung. „Strenge“, meint er, gehört durchaus zu einem modernen Lehrerbild.
Lehrer/Lehrerin – ein guter Kumpel?
Damit war – höchst an der Zeit! – die Debatte um einen von der „Generation Kumpel“ verworfenen pädagogischen Begriff eröffnet. Dies, nachdem „Strenge“ – obwohl sie in Gesprächen der Schüler/innen über ihre Lehrer/innen seit jeher eine wichtige Rolle spielt – seit Jahrzehnten aus erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen vollkommen verschwunden gewesen war. In den Rollendefinitionen zeitgeistiger Pädagog/innen war dafür kein Platz vorgesehen. Moderne Erzieher/innen haben sich scheinbar bis heute ausschließlich in der Rolle als „guter Kollege“ oder als permanent wohlmeinender „Coach“ zu definieren. Es gilt, möglichst nah am/an der Schüler/in zu sein, in vielen Schulen gehört das gegenseitige „Du“ zum normalen Umgangston. Eine äußerliche Trennung der Generationen ist inopportun, jegliche Form der Distanzierung in Kleidung und Gehabe wird abschätzig als Schwächezeichen und Relikt einer männlich-autoritär geprägten Schulwelt von gestern gesehen. In diesem Rollenverständnis zählt das Gesetz der Reversibilität, d.h. der vollständigen Umkehrbarkeit und Gleichberechtigung zwischen Jung und Alt. Distanz und Strenge haben in einer solchen Beziehung naturgemäß keinen Platz.
Gegenspieler/innen gefragt!
Aber schon in der Familie brauchen Heranwachsende bei aller liebevollen Einbettung auch Abstand und Differenz zu Erwachsenen als Anreiz für ihre kognitive wie psychosoziale Entwicklung. Dort genauso wie in der Schule ist Feltens Forderung nach „einem Schuss Strenge“ keinesfalls als rückwärtsgewandtes Plädoyer für Härte oder Lieblosigkeit zu verstehen, sondern vielmehr als ein Blick nach vorn: Gegen die oberflächliche Freundlichkeit im Umgang mit jungen Menschen.
Der Zürcher Jugendpsychologe Allan Guggenbühl geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht im Fehlen der Abgrenzung der Erwachsenen dem Kind gegenüber ein zentrales Manko gegenwärtiger Pädagogik. Kindern, stellt er fest, sind im Zuge moderner Erziehungslehren die familiären und schulischen Gegenspieler abhanden gekommen. Statt der konfrontierenden Autorität bleibt vielen nur die pädagogische Gummiwand. Der Verlust trifft vor allem männliche Adoleszenten auf der Suche nach ihrer eigenen Geschlechtsidentität; Jugendlichen auf der Kippe zur Kriminalität macht er am meisten zu schaffen.
Abgrenzung und Identität
Guggenbühl geht davon aus, dass der Heranwachsende den Kick des Normbruchs als Mittel der Abgrenzung braucht. Für die Provokation und antagonistische Auseinandersetzung bieten ihm aber allzu liberale und alles tolerierende Partner in Familie und Schule keine Bühne. Weder – falls überhaupt vorhanden – ein Vater in der Rolle des permanent jovialen Freundes noch ein Lehrer/eine Lehrerin als Dauerkumpel taugen in diesem „Spiel“ als adäquate Partner seiner Identitätsfindung. Erst durch das Inszenieren einer Provokation oder eines kriminellen Deliktes außerhalb ihres familiären und schulischen Systems erleben Jugendliche in der Konfrontation mit Polizei und Justiz jene Autoritäten, die ihren Abgrenzungsakt „würdigen“. Weil das Moment der geregelten Konfrontation mangels Autoritäten innerhalb des Systems fehlt, müssen die staatlichen Ordnungsdienste die Rolle des Gegenspielers übernehmen.
Guggenbühls Forderung an die Eltern und Schule ist, mit Festigkeit jene Belastung auszuhalten, die mit dem bewussten Anbieten der „Bühne“ für aggressive Provokation und Konfrontation zwangsläufig verbunden ist und dabei in keinem Fall das Risiko eines Beziehungsabbruchs einzugehen.
Distanz und Abgrenzung
Demgegenüber ist es Teil gegenwärtiger pädagogischer Grundsätze, dass jede Lehrperson permanent einen möglichst offenen Dialog mit allen Kindern und Eltern pflegen sollte. Aber diese Forderung gerät im Schulalltag sehr schnell an ihre Grenzen. Offene Kommunikation ist ebenso Illusion, wie ein Interesse an jedem und allen, oder die Forderung, jedes einzelne Kind immer ganzheitlich zu behandeln.
Abgrenzung und Distanz ist für jeden Pädagogen/jede Pädagogin allein schon aus psychohygienischen Gründen eine absolute berufliche Notwendigkeit. Lehrer/innen brauchen einen psychologischen Schutz. Denn wenn die Abgrenzung zum Schüler/zur Schülerin nicht rituell ausgedrückt, institutionalisiert und von der Pädagogik thematisiert wird, dann verschiebt sich die Abwehr und geschieht heimlich. Guggenbühl tritt dafür ein, dass in der Schule wieder Diskussionen über offene Formen der Abwehr geführt werden: „Es braucht wieder gewisse Rituale, die den Lehrpersonen ermöglichen, ihre Distanz offen auszudrücken.“
Statt sich Schülerinnen und Schülern jovial anzubiedern, geht es also darum, die Verschiedenheit zwischen lehrenden Erwachsenen und lernenden Heranwachsenden nicht zu leugnen.
Führung und Sanktionen
Aus diesen Überlegungen ergeben sich für den Bereich der Schule drei Aspekte als absolut hilfreich:
Felten ist überzeugt, dass eine, sich von der Lebenswelt der Schüler/innen klar abhebende und unterscheidbare schulisch-institutionelle Innenwelt sehr förderliche Entwicklungen in Gang zu setzen vermag. Erst ein klares Führungsverhalten, welches die spürbare Sanktionierung bei Verstößen gegen einen pädagogisch sinnvollen Ordnungsrahmen miteinschließt, schafft wesentliche Aspekte eines unverwechselbaren Schulraumes. Dies kommt seiner Meinung nach der Suche vieler Schüler/innen nach Orientierung und der Erfahrung von Grenzen entgegen.
Auch forderndes Gegenüber
Wenn davon die Rede ist, Strenge als bedeutsames Merkmal einer pädagogischen Haltung in Erziehung und Schule (wieder) zu konstituieren, dann geht es keineswegs um die Renaissance eines autoritären Paukstils. Umfragen zufolge begrüßen sogar viele Schüler/innen selbst eine größere pädagogische Entschlossenheit ihrer Lehrer/innen. Lehrer/innen müssten den Unterricht mit einer gewissen Strenge führen, sonst „macht jeder, was er will“, geben sie zu bedenken, und „die ganze Klasse quatscht, und man lernt nichts“.
Schüler/innen wollen offenbar selbst, dass ein(e) Lehrer/in jemand ist, der/die ihnen auch etwas zumutet, nämlich Belastungen beim Lernen auszuhalten. Hier treten Bedürfnisse zutage, die in der schulpädagogischen Debatte der letzten Jahrzehnte unterschätzt wurden.
Mit Ecken und Kanten
Auch für das Selbstkonzept der Schüler/innen sind Differenz und Abstand in der Lehrer-Schüler-Beziehung von Bedeutung. Aus psychodynamischer Sicht sind sie eine Hilfestellung bei der Integration frustrierender Erlebnisse. So paradox dies klingen mag: Die Zumutung angemessener Enttäuschung ist für Kinder einer der zentralen Entwicklungsanreize. Nicht im ständigen Zurückstecken von Anforderungen liegt die Chance, dass ein Kind Misserfolg nicht als massive existenzielle Bedrohung des Selbstwertgefühles erleben muss. Eine Haltung, die gleichzeitig streng, aber auch sorgend und schützend ist, vermag jene stabile, grenzen- und rahmensichernde Beziehung zu geben, die dem Heranwachsenden ermöglicht, ein realistisches Bild seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Beim Schüler kann ein einheitliches, nicht nur gutes Bild von sich selbst aber nur entstehen, wenn er konturierte Erwachsene erfährt, die sich nicht scheuen, auch negative Gefühle auf sich zu ziehen:
Ein(e) strenge(r) Lehrer/in ist bereit, Ablehnung auf sich zu nehmen. Wer Kindern zum Glück des Könnens verhelfen will, darf ihnen Zumutungen beim Lernen nicht ersparen. Wenn dies hin und wieder Freude macht – um so besser! Das Kind braucht eben nicht nur den wohlwollenden Begleiter, sondern auch das fordernde, Anstrengung verlangende und mitunter auch frustrierende Gegenüber!
EIN SCHUSS STRENGE FÜR DAS LERNEN - Eine pädagogische Tugend wird wiederentdeckt
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Schüler/innen wollen Lehrer/innen, die...
Mehr Strenge bedeutet...
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Ein(e) strenge(r) Lehrer/in ...
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Heinz Zangerle ist Psychologe und Psychotherapeut in Innsbruck; gerichtl. zert. Sachverständiger für Kinder- und Jugendpsychologie, Aufbau der Erziehungsberatungsstellen des Landes Tirol, Dozent an der Päd. Hochschule Innsbruck Autor von Fachbüchern:
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