Antinomien - Synergien
Die Umbrüche im Bildungswesen aus der Perspektive der Universität Das neue Bildungsgesetz versucht die Veränderungen und Entwicklungen der Bildungslandschaft in einen Guss zu bringen. Das sorgt neben Zukunftsvisionen auch für Zukunftsängste. Die Fakultät für Bildungswissenschaften stellt sich auf veränderte Bedingungen ein. An der Uni Brixen reflektiert man schon länger über Synergien im Bildungswesen. von Franz Comploi
Veränderungen sind häufig mit Ungewissheit verbunden. Das Er-Neuern steht in Spannung mit dem Er-Halten und Bewahren. Fritz Riemann hat diese zwei Antinomien, "die wir in ihrer unauflösbaren Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit leben sollen", an einem kosmischen Gleichnis verdeutlicht. Antinomien und Synergien Die Bewegung der Erde um die Sonne bezeichnet Riemann als "Revolution" oder "Umwälzung" und die Bewegung der Erde um die eigene Achse als "Rotation" oder "Eigendrehung". Davon leitet er zwei weitere gegensätzliche und sich ergänzende Impulse ab: "die Schwerkraft und die Fliehkraft. Die Schwerkraft hält unsere Welt gleichsam zusammen, richtet sie zentripetal nach innen, nach der Mitte strebend aus und hat etwas von einem festhalten und anziehen wollenden Sog. Die Fliehkraft strebt zentrifugal, die Mitte fliehend nach außen, sie drängt in die Weite und hat etwas von einem loslassen, sich ablösen wollenden Zug." Nur die Ausgewogenheit dieser gegensätzlichen Impulse ermöglicht Leben und Ordnung. Die Spannungen und Ängste buchstäblich "aus der Bahn geworfen zu werden", die in den Diskussionen um neue Schul- und Bildungsgesetze auftreten, können im Blick auf dieses kosmische Gesetz von Umwälzung und Erhalutung als notwendig angesehen werden. ... in der Ausbildung Die Bildung an Schule und Universität führt heute zu Abschlusszeugnissen, die anders bewertet werden als früher. Auf die Ausbildung folgt die Weiterbildung oder eine Projektmitarbeit, die durch den Praxisbezug die Verzahnung von Theorie und Praxis fördern soll. Die Neuformulierung des Bildungswesens, die Eigenverantwortung und Evaluierung der Lernenden und Lehrenden, das neue(ste) Leitbild, das Konzept des lebenslangen Lernens sind Gegenstand öffentlicher Diskussionen. In unserer globalisierten Welt geben Wettbewerb und Konkurrenz den Ton an. Die vielen Vorteile der Evaluierungen und Wettbewerbe - von PISA bis Prima la Musica - sollen nicht unterschätzt werden, aber als Nebenprodukt erzeugen Wettbewerbe viele Verlierer. "Heute müssen wir uns fragen, ob Wettbewerb, wie er fast von allen Erscheinungsformen der Werbung und der Medien gefördert wird, unserem Überleben dienlich ist. Es scheint in zunehmendem Maße, als ob der Mangel an sozialer Zusammengehörigkeit und die Unfähigkeit, Unterschiede in Einklang zu bringen, unsere individuelle und kollektive Zukunft in Gefahr brächte. Künstlerische Aktivitäten, die nicht wettbewerbsorientiert sind, können eine führende Rolle spielen, um Verständnis und Toleranz zu erwecken, ohne dabei unsere Verpflichtung zu Selbstverwirklichung und persönlichem Erfolg aufs Spiel zu setzen. Es gibt zunehmend Beweise, dass sich sogar Industrie und Geschäftsleben zu fragen beginnen, ob Wettbewerb wirklich die erste Voraussetzung für Erfolg sei. Die Rolle von Kreativität, Verhandlung und Partnerschaft wird in zunehmendem Maße in ihrer Bedeutung erkannt." (Royston Maldoom) In den neuen Leitbildern der pädagogischen Institutionen finden sich Leitideen, die Erfahrungs- und Handlungsorientiert-heit, ganzheitliches, fächerübergreifendes und projektorientiertes Lernen und Arbeiten fördern. Dass diese Ideen schon mal neu waren, heute aktuell sind und vielleicht wieder alt sein werden, dass Bildung und Schule stets auf der Suche nach dem idealen Leitbild sind, zeigt ein Zitat aus dem Jahre 1852: "Die alte Schule lehrte Worte und Begriffe; die neue Schule lehrt anschauliches Erkennen. Die alte Schule übte das Wortgedächtnis; die neue Schule denkt auf die Entwicklung des ganzen Menschen. Die alte Schule war eine Lernschule; die neue Schule ist eine Schule der Tat. Die alte Schule stellte die Lerngegenstände unverbunden nebeneinander; die neue Schule verknüpft sie organisch-genetisch." ... an der Fakultät für Bildungswissenschaften Die Fakultät für Bildungswissenschaften versucht im Studienangebot durch die Vernetzung unterschiedlicher Felder den Anforderungen des Berufsbildes gerecht zu werden: in der Ausbildung werden Grundlagen der Erziehungswissen-schaften, fächerbezogene Studien und Fachdidaktik, Laboratorien und der Praxisbereich angeboten. In kultureller und pädagogisch-didaktischer Hinsicht führen theoretische Kompetenzen (Wissen), Handlungskompetenzen (Tun), kommunikative und reflexive Kompetenzen (Kommunizieren) zu einer umfassenden professionellen Kompetenz. Praktika, Lernwerkstätten, Studentinnen- und Dozentinnenaustausch, Kooperation und Austausch mit der angewandten Praxis, der Lehre und der Forschung charakterisieren die Lehre und das Lernen. Das angestrebte Berufsbild der Kindergärtnerin oder Grundschullehrerin ist das an sich positive wie notwendige Bild der Gesamtlehrerin oder Universalistin. Und hier treten die beiden Ebenen des Spezialisten und des Universalisten in ein Spannungsverhältnis. Der Universalist sollte auch möglichst viele Spezialkompetenzen haben. Spezielle Universalisten oder universelle Spezialisten? im Fach Musik Das Angebot an Musikausbildung an der Fakultät für Bildungswissenschaften ist eine Kombination aus Musikwissenschaft (Hintergründe und Funktion von Musik im kognitiven, sozialen und emotionalen Bereich) und aus Musikpädagogik. Ein besonderer Schwerpunkt liegt in der elementaren Musikerziehung und der Sonderpädagogik für die Integration in mehrfacher Hinsicht: für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, Integration bei sozialen Konflikten sowie im Hinblick auf die Integration der verschiedenen Sprachkulturen. Um das Kind vom eigenen Wollen zum Können zu begleiten, sind nicht nur wesentlich mehr Stunden im Rahmen des Unterrichtsfaches notwendig, sondern "mehr Gelegenheit, mehr Wollen, mehr Anstiftung und mehr Applaus". "Wir brauchen nicht vorrangig den besseren Raum, sondern Menschen, die es können, und solche, die es wollen. Lernen braucht Raum; Raum macht Lernen; doch erst Wille im Raum formt Können", schreibt Erwin Rauscher, Gründungsrektor der pädagogischen Hochschule Niederösterreich, in seiner Stellungnahme zu den vor einem Jahr erschienenen "Thesen zum Musik- und Instrumentalunterricht für Kinder im Volkschulalter" des "Alumni-Netzwerkes Musikpädagogik" in Wien. Noch ist die Nutzung von Synergien in Musikerziehung zwischen den verantwortlichen Bildungsinstitutionen Zukunftsmusik. Ein notwendiger erster Schritt wäre ein strukturiertes Bildungskontinuum vom Kindergarten bis zur Hochschulreife. Musikalische Bildung braucht Qualität, es muss jedoch auch für genügend Quantität gesorgt werden. Eine Grundschullehrerin, die seit der Mittelschule keinen Musikunterricht gehabt hat, kann schwer diese "curriculare Lücke" in der Ausbildung an der Universität aufholen. "Jede pädagogisch innovative Idee braucht Struktur, sonst bleibt sie Vision, Organisation, sonst wird sie Worthülse, Leadership, sonst erzeugt sie Neid(er), Schulrealität, sonst erhöht sie Schreibtischmüll. Schule 'entwickeln' heißt, die Organisation den Ideen unterstellen, nicht aber die Ideen einer Ordnung unterwerfen: Warum nicht der Pakt geschlossen mit Schulentwicklung als ein Schrittmacher für jene Philosophie des Gefühls, die man in Noten schreibt?!" (Erwin Rauscher) Franz Comploi ist Komponist, Domorganist in Brixen und Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen.
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