Kommt ein neuer Humanismus?

Der humanistische Kern der europäischen Bildungskultur

Obige Frage zählte zu den Themen, die bei der Tagung der Akademie deutsch-italienischer Studien am 24. und 25. Oktober 2008 in Meran diskutiert wurden. Kommt ein neuer Humanismus? Und welche Rolle könnte das Lateinische darin spielen? Hier ein Resümee des Vortrages.

von Karlheinz Töchterle

Der Begriff „Humanismus“ ist eher jung, von F. I. Niethammer 1808 in polemischer Tendenz gegen die von ihm als „animalistisch“ denunzierten Philanthropinisten geprägt, das Phänomen selber ist fast so alt wie die europäische Geistesgeschichte und scheint zu ihren Konstituenten zu gehören: Immer wieder wird in ihr die Bezugnahme auf eine frühere Epoche zum Programm einer Erneuerung erhoben, wobei zwei Konstanten festzustellen sind: die Abwertung der gegenwärtigen Situation und, auch als Konsequenz daraus, die Idealisierung der vergangenen Bezugsgröße.

 

Immer wieder

Eine Folge dieser Konstellation ist jeweils die Betonung von Diskontinuität, welche die Traditionskontinuität verdeckt, die man bei einer Perspektive außerhalb dieser Programmatik mit durchaus gleich starker Berechtigung behaupten kann. Wir gehen in unserer Sicht der europäischen Geistesgeschichte also den jeweiligen Kündern neuer Humanismen gleichsam auf den Leim.

Ob wir nun Diskontinuität oder Kontinuität betonen, in jedem Fall spielte bei diesen Bezugnahmen bisher die Antike stets eine bedeutende Rolle. Die ersten derartigen „Erneuerungen“ spielten sich noch in der Antike selber ab: Alexandrien und der Attizismus „eroberten sich“ – mit E. R. Curtius gesprochen – das idealisierte Athen des 5. und 4. Jahrhunderts zurück, der augusteische Klassizismus die ältere griechische Literatur insgesamt, die lateinischen Kirchenväter bezogen sich wie die spätantike pagane Reaktion dann auf die römischen Klassiker. Vom Frühmittelalter bis zum Neuhumanismus ist ein ständig strömender Antikenbezug feststellbar, der erst im 19. Jahrhundert seine prägende Dominanz für die europäische Geistesgeschichte allmählich zu verlieren beginnt. Erst der so genannte „Dritte Humanismus“ der Zwischenkriegszeit geht nicht mehr über akademische Zirkel hinaus.

Veränderter Begriff

Vor diesem Hintergrund scheint die Rede von einem „neuen“ (einem vierten?) Humanismus riskant. Gleichwohl findet sie statt, allerdings oft von einem erweiterten und des Antikebezugs ledigen Begriffs, der das zugrundeliegende etymon des Humanen für ganz unterschiedliche Programmatik und Appelle nutzt. Auch das hat Tradition, aus der hier nur zwei Beispiele herausgegriffen seien: Karl Marx bezeichnete mit „Humanismus“ im Anschluss an Hegels Dialektik von Herr und Knecht die Vollendung der Vermenschlichung durch die Aufhebung der Entfremdung im Kapitalismus. Papst Paul VI. forderte in der Enzyklika populorum progressio einen neuen Humanismus im Sinne der Friedensfestigung und des sozialen Ausgleichs.

Neue Kontexte

Einer der neuen Diskursteilnehmer ist Julian Nida-Rümelin, ehemaliger Staatsminister für Kultur und jetzt Professor für politische Theorie und Philosophie an der Universität München, mit seinem 2006 erschienenen Buch „Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel“. Er propagiert darin eine Besinnung auf den humanistischen Kern der europäi-schen Kultur und dessen Nutzung angesichts neuer Kontexte wie Globalisierung, Ökonomismus oder Naturalismus, wobei Schule und Bildung zwar einen Fokus bilden, der Appell insgesamt aber weit darüber hinaus geht und generell wird. Enger ist die Stoßrichtung in der 2005 gedruckten Bayreuther Habilitationsschrift von Thomas Hubertus Kellner, der dem deutschen Gymnasium mit einem „dialektisch-integrativen“ Humanismus neue Lebenskraft verschaffen will. – Der Diskurs ist also in der Welt, und wir können an ihm teilnehmen und mithelfen, einen neuen Humanismus herbeizureden.

Das führt zur zweiten Frage im Vortragstitel: Kann das Lateinische hier (noch) eine Rolle spielen? Ich möchte diese Frage mit einer Argumentationsform bejahen, die in der Legitimationsdiskussion um Latein als Schulfach schon seit Langem eine Rolle spielt und daher abgegriffen wirken könnte: mit einem Hinweis auf die Polyvalenz des Faches. Man kann dieses Argument aber gerade vor dem neuen Hintergrund nochmals anreichern und profilieren.

Europäische Bildungskonzeption

Wenn es um eine europäische Leitkultur gehen soll, dann gibt es wahrscheinlich kein Schulfach, das ‚europäischer' ist als Latein. Die Behauptung könnte ausgiebig begründet werden, was hier entbehrlich scheint. Ein Begründungsansatz wurde auch im Verlauf dieses Referats mit dem Hinweis auf die Kontinuität des Antikebezugs in der europäischen Geschichte geliefert, der zudem, vom Neuhumanismus ausgenommen, vom Lateinischen dominiert war. Er würde noch verstärkt, wenn man die lateinische Literatur noch mehr als bisher in ihrer Gesamtheit sähe und didaktisch fruchtbar machte. Gerade im Neulatein finden sich ja besonders viele Basistexte für die europäische Identität.

Latein kann aber auch in einer anderen Hinsicht einen wesentlichen Beitrag zu einer künftigen europäischen Bildungskonzeption leisten. In dieser wird, wie zahlreiche Kundgaben offizieller Stellen belegen, das Prinzip der Mehrsprachigkeit eine bedeutende Rolle spielen. Für die Mehrsprachigkeit stellen Lateinkenntnisse eine ideale Basis dar. Auch das kann ausgiebig und völlig schlüssig argumentiert werden.

Sprachkompetenz als Fundament

Mit dem zweiten Argument zusammen hängt ein drittes: Latein schult wie kein anderes Sprachfach die metasprachli-che Kompetenz. Diese ist auch für das Erlernen weiterer Fremdsprachen nützlich, wie die neuere Forschung zur Mehr-sprachigkeit erweist. Sie ist aber auch in einem viel allgemeineren Sinn fundamental: Sprache war innerhalb der euro-päischen Bildungsgeschichte stets Zentralfach. Sie wurde erst in der Aufklärung und dann wieder ab Mitte des 19. Jahrhunderts in dieser ihrer Bedeutung von ‚Realien' bedrängt. In dieser Bedrängnis befindet sie sich innerhalb des schulischen Kanons auch heute, was sich angesichts ihrer Rolle im theoretischen Diskurs sogar einigermaßen paradox ausnimmt. Denn dort ist sie in seinen verschiedensten Ausformungen höchst relevant. Es sei hier nur auf den linguistic turn und auf die verschiedenen (de)konstruktivistischen oder neoidealistischen Strömungen verwiesen. Hier könnte die Sprachreflexion im Lateinunterricht ein wichtiges Propädeutikum sein.

Man kann zwei wesentliche Forderungen aus dem gewonnenen Befund ableiten:

  • Latein sollte sich in der Bildungsdiskussion wieder stärker zu Wort melden.
  • Die Methodik und Didaktik des Lateinunterrichts sollte sich auf diese (ohnehin nur teilweise) neuen Herausforderungen einstellen. Wenn man nachweisen kann, dass das Fach ihnen in seiner täglichen Praxis begegnen kann, wird es schwer sein, an ihm vorbei zu kommen.

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