Den Kindern ihre SpracheDialekt in der Schule - Teil 1 Wenn wir von Interkulturalität reden, denken wir meist an Migration, an Menschen aus exotischen Ländern, die zu uns kommen, vielleicht noch an die kulturellen Unterschiede zwischen den einheimischen Sprachgruppen. Dass es auch innerhalb ein und derselben Sprachgruppe kulturelle Unterschiede gibt, vergessen wir dabei gerne. Aber es gibt sie. von Franz Lanthaler
Ein typisches Beispiel für die Verkennung von internen kulturellen Unterschieden ist das Schlagwort „Dialekt als Sprachbarriere“ aus den 70er Jahren. Der Grund für das schlechtere schulische Abschneiden der Dialekt sprechenden Schüler/innen lag nicht am Dialekt, sondern an der Schule, die nicht bereit war, die Kinder dort abzuholen, wo sie mit ihrer Sprache zu Hause waren, sondern – von den Vorstellungen der städtischen Mittelschicht ausgehend – die im Dialekt sozialisierten, ländlichen oder aus „bildungsfernen“ Schichten stammenden Kinder nur als Elemente sah, die den Bildungs- und Karrierelauf der im Standard sozialisierten Sprösslinge hemmten. Diese scheinbar wissenschaftlich gestützten Ansichten wurden in den 80er Jahren durch die Ergebnisse der Spracherwerbsforschung widerlegt und durch die „dialektorientierte Didaktik“ überwunden. In Südtirol geistern sie immer noch – oder jetzt wieder – herum. Maturanten berichten, dass sie in all den Schuljahren nie eine Thematisierung der Beziehung Dialekt – Standard erfahren haben: Lehrerinnen und Lehrer reden mit ihnen auch außerhalb der Klasse nie im Dialekt. Und Kindergärtnerinnen erzählen, dass es ihnen verboten werde, nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit deren Eltern, ja sogar untereinander im Beisein der Kinder Dialekt zu sprechen. Das erinnert doch sehr an die schottischen Schulgänge, wo bis vor nicht allzu langer Zeit noch geschrieben stand: „Dialekt sprechen und spucken verboten!“ Nicht beabsichtigte Folgen Diese institutionelle Haltung der Primärsprache der Kinder und Jugendlichen gegenüber lässt wichtige Aspekte, die die Persönlichkeitsbildung, den weiteren Spracherwerb und die soziale Integration der Kinder betreffen, außer Acht und kann daher Folgen nach sich ziehen, die von den Erziehungsinstanzen nicht beabsichtigt sein können. Durch die Sprache wird das Kind zur Persönlichkeit, durch sie wird es ein Mitglied der Gesellschaft und übernimmt soziale Rollen. Da dies bei Dialekt sprechenden Kindern zunächst alles im Dialekt geschieht, werden sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gehemmt, wenn sie plötzlich nur mehr in einem Medium interagieren dürfen, in welchem sie auf einer viel niedrigeren Erwerbsstufe stehen als in ihrem Dialekt. Sprache als Mittel, über die Welt (Dinge, Vorgänge, Beziehungen) nachzudenken, sie zu verstehen und auf andere symbolisch einzuwirken, wird auf ein Niveau zurückgeworfen, das viel primitiver ist als das in der sprachlichen Primärsozialisation bereits erreichte, wenn diese nicht akzeptiert und wenn an sie nicht angeknüpft wird. Die vielseitigen sprachlichen Kompetenzen, die das Kind zu diesem Zeitpunkt bereits erworben hat, drohen verschüttet zu werden, wenn die Schule sie verdrängt, anstatt sie zu aktivieren. Längst automatisierte Fertigkeiten gehen so verloren und müssen womöglich neu erlernt werden. Sechsjährige haben in der ihnen vertrauten Varietät oft schon erstaunliche Kompetenzen entwickelt: Man nenne mir Eltern, die nicht schon vor der stringenten Argumentation eines 6-Jährigen die Segel streichen mussten! Viele dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten gehen verloren, wenn die Schule sie nicht für den weiteren Standarderwerb nutzbar macht. Was lässt sich die Schule nicht alles entgehen, wenn sie die sprachlichen Unterschiede in der Klasse nicht einmal thematisiert, als Ausgangspunkt für die Reflexion nimmt und die Differenzen zur primären Zielsprache, dem Standard, herausarbeitet. Die Verbannung des Dialekts aus der Schule hat bisher nicht verhindern können, dass bei vielen Jugendlichen mit zunehmendem Alter die Abneigung gegenüber dem Hochdeutschen wächst. Da sie die angenehmen Seiten des sozialen Miteinanders in Familie und Freundeskreis im Dialekt erleben und in der Schule den Standard als eine kopflastige, mit Bewertung, Leistungsdruck und Misserfolgen verbundene, oft auch noch als eine lebensferne mündlich gebrauchte Schriftsprache, als Sprache der Distanz erleben, verdichtet sich der affektive Filter und es entsteht auch bei denen, die zunächst mit großer Begeisterung in dieses Medium eingetaucht sind, eine Aversion. Ressource Dialekt In den 80er Jahren haben wir von den Schweizern (Sieber/Sitta 86) die bereits erwähnte dialektorientierte Didaktik übernommen, wovon die Unterrichtsmaterialien für die Mittel- und Oberschule (Saxalber 85 und 94) und die in der Folge erarbeiteten Handreichungen und Lehrpläne Deutsch zeugen. Diesen Arbeiten liegen die Befunde aus der Spracherwerbsforschung zu Grunde, die besagen, dass die Kinder mit einer großen sprachlichen Erfahrung und mit einer vielfältig ausgebauten Sprachkompetenz ausgestattet einschulen, dass Spracherwerb immer auf das Vorhandene aufbauend fortschreitet und dass man nicht von den Mängeln (Defizithypothese), sondern von den Kompetenzen und den bereits vorhandenen Ressourcen ausgehen muss. Kurz gesagt: Man braucht den Kindern ihre Sprache nicht zu nehmen, um ihnen eine neue zu vermitteln.
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DIS KUS SION |
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