"Interkulturell" in der Migrationsgesellschaft

 

Auch in pädagogischen und bildungspolitischen Diskussionen und Handlungsfeldern hat die Rede von „Interkulturelle“ seit einigen Jahren auf verschiedene Weise Einzug erhalten. In der Verwendung des Kennwortes Interkulturell drückt sich die zunehmende Relevanz und Beachtung gesellschaftlich existierender Vielfalt und Differenz aus – auch und gerade in ihrer Bedeutung für Bildungsinstitutionen und pädagogisches Handeln.

von Susanne Arens und Paul Mecheril

 

 

Die Chiffre „Interkulturell“ bezieht sich auf ein geteiltes Wissen darüber, dass sich Lebensformen und -äußerungen vervielfältigt haben und dass eine angemessene Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität sich auf diese Diversität der Sprachen, Lebenslagen und Alltagswelten beziehen muss.

 

Nun wird das Kennwort „ Interkulturell“ in pädagogischen Handlungskontexten oft mit einem anderen Ausdruck verbunden, nämlich dem der „Migration“. Interkulturelles Vermögen und Reflexion in der Pädagogik sei erforderlich, so eine weit verbreitete Annahme, weil auf Grund von Migration eine kulturelle Diversifikation gesellschaftlicher und auch pädagogischer Realität stattgefunden habe. Dass dies in gewisser Weise passiert ist, soll hier nicht bezweifelt werden. Allerdings handelt es sich hierbei in erster Linie nicht um den „Import fremder Kulturen“, sondern um die von Migrationsphänomenen fundierte Entstehung und Entwicklung „einheimischer Kulturen“: die z. T. ethnisch codierten Jugendkulturen, die wir in Wien, Innsbruck oder Graz beobachten können, sind keine importierten, sondern einheimische, österreichische Kulturen!

Problematisieren wollen wir jedoch, inwiefern „Kultur“ die zentrale Differenzdimension ist, auf der die relevanten Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne sogenannten Migrationshintergrund zu beschreiben, zu untersuchen und zu behandeln sind. Denn „interkulturell“ ist als Perspektive für die Beschäftigung mit von Migrationsprozessen hervorgebrachter Pluralität zu eingeschränkt; ein Problem, das als Kulturalisierung des Sozialen bezeichnet wird: Die Komplexität der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Raumes, in dem Einzelne sich verorten und verortet werden, wird simplifiziert. Somit scheint es, „Kultur“ könne alle migrationsbezogenen Unterschiede, die sich nicht selten als Unterschiede in der Möglichkeit politischer Teilhabe, des Rechtsstatus, der Kapitalverhältnisse darstellen, aufklären. Die Konsequenzen aus der Kritik sind zunächst reflexiver Art. Leitend für diesen reflexiven Ansatz ist folgende Frage: Wer verwendet in welcher Situation mit welchem Effekt wie das Erklärungsmuster „Interkulturell“?

 

Vorsicht vor Kulturbrille und Zuschreibungen

Die reflexive Konsequenz aus der Kulturalisierungskritik besteht also darin, „Kultur“ als ein Deutungsmuster zu verstehen, welches sowohl in Selbst- und Fremdbeschreibungen alltagsweltlicher Handlungssubjekte, also auch in den Beschreibungen und Konzepten Professioneller vorkommt, sowie auch in wissenschaftlichen Erklärungsangeboten benutzt wird. Wo der Rückgriff auf das Deutungsmuster „Kultur“ und „kulturelle Differenz“ durch – beispielsweise Lehrpersonen – Handlungs- und Bildungsräume der Schüler/innen verengt, dort ist dieser Rückgriff problematisch. Wenn z. B. durch die Nutzung der Kulturbrille Schüler und Schülerinnen auf eine ethnisch-kulturelle Rolle oder gar ein ethnisch-kulturelles Wesen festgelegt werden, wenn z. B. ethnisch-kulturelle Deutungen zur Entscheidung über Schulverläufe (etwa Übergangsempfehlungen etc.) beitragen, wenn Lehrer und Lehrerinnen sich mit dem Hinweis auf die „kulturelle Identität“ der „Anderen“ der Verantwortung entziehen, Schülern und Schülerinnen einen ihren Vermögen entsprechenden Entwicklungs- und Bildungsrahmen zur Verfügung zu stellen, dann beispielsweise haben wir es mit in der Regel gravierenden negativen Effekten, mit massiven (bildungs-)biografischen Wirkungen zu tun, die aus der Verwendung des Deutungsmusters „Kultur“ resultieren.

Vor diesem Hintergrund sollte ein erster, im Hinblick auf das Deutungsmuster „kulturelle Differenz“ skeptischer migrationspädagogischer Grundsatz zum Tragen kommen – für einen reflexiv-kritischen Umgang mit kulturellen Zuschreibungen. Das Motto dieser von stereotypen Zuschreibungen Abstand nehmenden Leitlinie lautet: „Jede/r ist anders anders“.

Weder Einheitsideal noch Sonderveranstaltungen

Zwei weitere Grundsätze seien abschließend skizziert. „Wir sprechen (u. a.) Türkisch“: Querschnittsaufgabe in Unterrichtspraxen und -konzeptionen ist es, Differenzen unvoreingenommen Rechnung zu tragen.

Bis heute wird im deutschsprachigen Raum der real existierenden Vielfalt der Schüler/innenschaft in der Regel ein Konzept von Schule und (Regel-)Unterricht entgegengesetzt, das an einem fiktiven Einheitsideal orientiert ist und Vielfalt so letztlich ausschließt bzw. als Störung wahrnimmt. „Interkulturelles Lernen“ wird unter dieser Voraussetzung maximal zu einer „Sonderveranstaltung“ – etwa in Form von Spezialangeboten für „die Anderen“ oder aber als Projekt, das mit dem „eigentlichen“ Unterrichtsgeschehen wenig zu tun hat. Die von den Schülern eingebrachten Unterschiede – etwa der Sprache, des Wissens, des Verhältnisses zur Bildungsinstitution – sind Unterschiede, die konstitutiv für die (Migrations-)Gesellschaft sind; es handelt sich nicht um interkulturelle Unterschiede in dem Sinn, dass „Andere“ ihre kulturellen Gepflogenheiten zu „uns“ mitgebracht haben. Vielmehr sind die kulturellen und sprachlichen Unterschiede Kennzeichen der einen (pluralen) Gesellschaft: Wir sind different.

Für das Schul- und Unterrichtsgeschehen bedeutet dies, dass die von den Schülerinnen und Schülern eingebrachten Unterschiede in mehrfacher Hinsicht pädagogisch bedeutsam werden: Der eingebrachten Heterogenität hat die Schule zunächst in der Weise Rechnung zu tragen, dass sie sie symbolisch wie faktisch anerkennt und ihnen im angemessenen Rahmen ihrer Fertigkeiten, Kenntnisse und Interessen Bildungsprozesse ermöglicht (die diesen Rahmen freilich nicht schlicht konservieren, sondern transformieren werden – das ist das Wesen der Schulbildung). Die Hinterfragung der Selbstverständlichkeit, mit der etwa die mehrsprachige Schülerschaft zumeist ausschließlich in einer Sprache, nämlich der Sprache der Mehrheit, unterrichtet wird, sollte dabei einhergehen mit der Entwicklung angemessener Konzepte mehrsprachigen Unterrichts, in denen die Grundlagen dafür gelegt werden, dass von allen Schülerinnen und Schülern das Vermögen zu respektabler Kommunikation in der mehrsprachigen und pluralen Gesellschaft erworben werden kann.

 

Migrationspädagogische Perspektive

Auch den weiteren allgemeinen Lehrplan gilt es in migrationspädagogischer Perspektive zu überdenken. In diesem Zusammenhang stellt sich u. a. die Frage nach der Ausdifferenzierung der allgemeinen Angebotsstruktur bei gleichzeitiger Vervielfältigung der allgemeinen Angebote. Zwei Beispiele zur Veranschaulichung des letzten Punkts mögen genügen: die Veränderung des Geschichtsunterrichts: von der einen Geschichtserzählung (aus einer bestimmten, national verengten Perspektive heraus) zu vielfältigen, multiperspektivischen Geschichtserzählungen; die Veränderung des Religionsunterrichts, so dass allen Schülerinnen und Schülern gleichermaßen die durch sie selbst vertretene religiöse Vielfalt zugänglich werden kann.

Sinn für Grenzgängertum

„Überschreiten der Grenzen erlaubt“: Es gilt, Mehrfachzugehörigkeiten anzuerkennen und Sinn für Grenzgängertum zu entwickeln. Ein erstens nicht auf Identitäten fixierender, zweitens nicht ausgrenzender Umgang mit Vielfalt und Differenz muss sich schließlich von den Zumutungen eindeutiger Positionierungen im Hinblick auf national-kulturell kodierte Zugehörigkeit („Bist Du eher Österreicherin oder Serbin“; „Wo kommst Du ursprünglich her?“) absetzen. Die Festschreibung auf eine national-kulturelle, ethnisch-kulturelle Position wird zum einen den tatsächlichen Lebensverhältnissen und Selbstverständnissen vieler Menschen im Kontext aktueller gesellschaftlichen Bedingungen vielfach nicht gerecht. Zum anderen arbeitet sie der Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse zu, die in assimilierender oder exkludierender Weise „Differenz“ zum Verschwinden bringen.

Die Eindeutigkeit der Identifizierung und Positionierung bringt „in Ordnung“, was sonst irritiert; nämlich die Anwesenheit des „Anderen“ im vermeintlich geregelten Verhältnis von „eigen“ und „fremd“, von „Wir“ und „Nicht-Wir“.

Der Umgang mit dem mehrfach Zugehörigen, mit Unbestimmbarkeit und Unbestimmtheit gehört vielleicht zu den grundlegendsten und zugleich schwierigsten professionell-pädagogischen Anforderungen, allemal im politisch und pragmatisch restringierten Handlungsfeld der Schulpädagogik. Umso wichtiger wäre, dass in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern (mit und ohne „Migrationshintergrund“) das Vermögen zu einem freundlichen und wohlwollenden, Bildungsprozesse ermöglichenden Umgang mit dem, was nicht eindeutig ist, ausgebildet und gestärkt werden könnte. Es ist dies, wie so vieles im Bereich Migration und Bildung, eine Frage des (politischen) Willens.

 

 

 

Susanne Arens ist Diplom-Pädagogin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Doktorandin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck.

Paul Mecheril befasst sich u. a. mit Ungleichheits- und Migrationsforschung. Er  ist Uni- Professor und Leiter des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck.

Thema