Interkulturelle Bildung - überflüssig oder bereichernd?

Das „monochrome“ Lernen, das Lernen aus dem Blickpunkt einer Kultur, aus dem Standpunkt eines bestimmten Weltbildes heraus, wird in der postmodernen globalisierten Gesellschaft, in der die Prinzipien der „Multiplizität“ und der „Diversität“ dominieren, rasch obsolet werden und zu großen Kommunikationsschwierigkeiten führen. So stellt sich die grundlegende Frage: Wie wird man interkulturell gebildet?

von Siegfried Baur

 

Man kann den Versuch unternehmen, mit dem späten Wittgenstein, dem der „Philosophischen Untersuchun-gen“ in eine Theorie der interkulturellen Kompetenz einzusteigen. Das kann gelingen, wenn wir von seiner Theorie des Sprachspiels ausgehen, die sprachliches Handeln mit dem sozialen Handeln verbindet. Sprache realisiert ihre Bedeutungen in den verschiedenen Rollen des Sprachspieles, das gleichzeitig auch ein soziales Mitspielen nach den Spielregeln der jeweiligen Kultur ist. Dies wird aus zwei Kernzitaten annähernd deutlich und zwar, dass „eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ (PU 19) und dass „das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“ (PU 23). Demnach könnte man eine Sprache nur wirklich verstehen und mit Sprache handeln, wenn man die Lebensform begreifen kann, in der diese Sprache Ausdruck der Lebensform oder konkreter der Alltagskultur ist.

Durch interkulturelles Lernen kommt es jedenfalls zu einer „Selbstrelativierung einer Lebensform“ (Lütter-felds 1999, S. 13). Und diese Erkenntnis, dass jede Kultur eine „Differenz“ ist, eine Variante der unzähligen menschlichen Möglichkeiten, das Leben zu leben, das Denken zu erfinden und die Freiheit zu träumen, wäre schon ein gutes Ziel. „Differenz darf dann allerdings nicht als eine substantielle, essentielle Verschiedenheit verstanden werden. Sie definiert sich nicht durch das, was sie 'ist' (was ihre Substanz ist), sondern durch die Art, das Ausmaß und die Begriffe ihres Unterschiedes von anderen 'Differenzen'. Sie ist ein reflexiver Begriff, ein Begriff der Intersubjektivität, nicht der Substantialität. Dieses philosophische Problem ist für die Politik von größter Bedeutung.“ (Feher/Heller 1995, S. 97 f .)

Der Erwerb einer interkulturellen Kompetenz erfordert die Relativierung der kollektiven und individuellen Ich-Zentriertheit. Es geht dabei immer um den notwendigen Versuch, das eigene Weltbild aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dies erfordert eine gewisse Distanz zu sich selbst. Interkulturelle Bildung beginnt dann, wenn die eigene Kultur nicht mehr wie ein Naturereignis empfunden, sondern als ein gruppenspezifi-sches Produkt erkannt wird, als eine kulturelle Form zwischen anderen kulturellen Varianten. Dadurch er-kennt man auch, dass die eigene Sozialisation ein kulturelles Produkt ist und dass es in anderen Kulturen andere „Spielregeln“ gibt.

Gerade deshalb kann interkulturelles Lernen nicht als eine Einbahnstraße verstanden werden, die vom Anderen, der in der Minderheit ist, zur Mehrheit, zur Mehrheitskultur führt. Interkulturelles Lernen hat damit nichts zu tun und auch nicht damit, den Anderen bestimmte Bereiche oder Nischen zuzuweisen, ohne sich das Problem der Integration zu stellen. Interkulturelles Lernen geht alle an, die Mehrheit und die Minder-heiten. (Vgl. Callari Galli 1996, 1S. 7)

Für den Erwerb dieser Kompetenzen braucht es Lernorte, wo prozesshaftes Lernen miteinander möglich ist: Vom Kindergarten bis zur Universität.

Die Situation an Südtirols Kindergärten und Schulen

Lernorte gibt es in den Schulklassen und Kindergärten Südtirols zunehmend mehr. Diese sind allerdings behutsam zu nützen. Die Behutsamkeit sollte dabei in Proportion zur Verletzbarkeit der ausländischen Kinder stehen. Sie sind oft nicht unähnlich „unseren“ Kindern aus sozial benachteiligten Schichten, aus schwierig-sten Familiensituationen, die für die Schule auch oft ein „Problem“ waren und es noch sind.

Im laufenden Schuljahr besuchen 1.387 ausländische Kinder die Kindergärten Südtirols. Sie machen 8,9% aller eingeschriebenen Kinder aus und kommen zum großen Teil aus Afrika (21%), aus Asien (18%), aber auch Albanien, Mazedonien und Serbien.

„Die Ausländerquote beläuft sich in den Kindergärten mit italienischer Sprache auf 19,3 ausländische Kinder je 100 Eingeschriebene. Demgegenüber beträgt sie an den Kindergärten mit deutscher Sprache 5,8 und an jenen in den ladinischen Ortschaften 5,1 je 100 Eingeschriebene.“ (Astat 2009a, 2)

Auch an den Grundschulen zeigt sich eine kulturelle und sprachliche Vielfalt. Im Schuljahr sind an Südtirols Grundschulen 2.032 ausländische Schüler eingeschrieben. Das sind 7,3% aller eingeschrieben Grundschüler. Die Herkunftsregionen dieser Schüler/innen sind zum Großteil Asien mit 18,4%, Afrika mit 18,3% und 13,1% aus anderen EU-Ländern (oft Kinder aus Österreich und Deutschland).

„Die Ausländerquote beläuft sich an den Grundschulen mit italienischer Unterrichtssprache auf 18,1 je 100 eingeschriebene Grundschüler. Demgegenüber beträgt sie an den Grundschulen mit deutscher Unterrichts-sprache 4,5 und an jenen in den ladinischen Ortschaften 2,3 je 100 eingeschriebene Grundschüler.“ (Astat 2009b, 2)

Woran sollen Lehrer/innen denken?

Es ist zugleich die Frage nach den notwendigsten Erfordernissen. Als Antwort können hier nur Thesen gegen den Mauerbau und für eine Pädagogik der Inklusion skizziert werden, um die sich seit zwei Jahren auch die zu diesem Zwecke mit Beschluss der Landesregierung Nr. 1482 vom 07.05.2007 eingerichteten Sprachen-zentren schulstufen- und sprachgruppenübergreifend bemühen.

 

  1. Erziehung und Unterricht dürfen nicht unter Bedingungen der Ausgrenzung erfolgen. Die Jugendlichen verschiedener Sprachen und Kulturen müssen gemeinsam erzogen werden. Die Familiensprachen der Migrantenkinder verlangen Respekt. Sie sind die Basis, auf der eine Zweitsprache aufgebaut werden kann. Dazu sind interkulturelle Mediatoren und Mediatorinnen erforderlich, die die Kinder eine Zeit lang auf dem Wege zur anderen Sprache begleiten. Der Kontakt und die vermittelnde Kommunikation mit den Eltern der Migrantenkinder können kulturelle Missverständnisse ausräumen und eine Integration fördern, die nicht einfach als einzige Möglichkeit die der „Assimilation“ an die Mehrheitskultur offen lässt.
  2. Interkulturelles Lernen hat nicht selten mehr mit der Verschiedenheit der sozialen Schichten als mit der Verschiedenheit der Kulturen zu tun. Dieses Problem verschärft sich noch, wenn die Schüler/innen nicht die Sprache des Aufnahmelandes sprechen.
  3. In den Schulklassen entwickeln sich Konflikte häufig entlang von ethnischen Trennungslinien. Wenn es gelingt, diese Demarkationslinien zu beseitigen, sie vom „Desktop“ der Wahrnehmung zu entfernen, verschwinden auch die Konflikte. Dies erfordert eine Schule, in der konkrete Erfahrungen über ein soziales und kulturelles Aushandeln und Vermitteln möglich ist.
  4. Es gibt einen individuellen Egozentrismus sowie einen kollektiven, der Ethnozentrismus heißt. Es gibt auch einen „Logozentrismus“, der als religiöser Fundamentalismus bezeichnet werden kann. Es ist notwendig, Prozesse der Reflexion über diese „Zentrismen“ in Gang zu setzen, sie aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Dies ist der Kern einer Pädagogik der Pluralität, die eine Pädagogik für alle ist.
  5. Interkulturelles Lernen ist nicht ein Summieren von Kulturen. Es erfordert vielmehr eine transversale Haltung der Personen. Die Lehrpersonen sollten in der Lage sein, die Situation der Schüler/innen zu analysieren und ihren Sozialisierungsprozess zu verstehen. Um dies leisten zu können, ist es unerlässlich, dass Lehrer/innen viel über die Sprache und Kultur der anderen wissen. Es braucht dazu auch viel Sensibilität, die durch eine reflektierte Praxis und eine gute Grundausbildung erworben werden kann. In die Ausbildung der Lehrpersonen sollten daher sprachliche und kulturelle Pluralität integriert werden.
  6. Das Gegensatzpaar „monokulturell-interkulturell“ hat in vielen Situationen keine wirkliche Realität mehr. Es baut eher Barrieren auf, die es in der intendierten scharfen Trennung nicht mehr gibt. Die Globalisierung, transnationale Entwicklungen und die Migrationsbewegungen haben vor allem in urbanen Gebieten die vorwiegend monokulturellen Bereiche fast völlig verdrängt. Die „third cultur kids“ sind keine Kinder mit Identitätsstörungen.
  7. Interkulturelle Pädagogik ist keine Defizitpädagogik. Sie ist eine wesentliche Komponente der Allgemeinbildung in einer postmodernen, multikulturellen und globalisierten Gesellschaft.

 

 

Siegfried Baur, Professor der 2. Ebene an der Fakultät für Bildungswissenschaft der Freien Universität Bozen, verfügt über mehrjährige Erfahrungen als Lehrer, Direktor und Inspektor und eine fundierte Kenntnis der Bildungslandschaft Südtirol.

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