Bildung in der TechnosphäreEin Streiflicht zu den geistigen und seelischen Herausforderungen beim Großwerden von Kindern
Kinder wachsen heran in einer Sphäre der Technik. Ihnen steht eine Vielzahl von technischen Geräten und Systemanbindungen zur Verfügung. Wie ist das Großwerden dabei zu bewältigen – geistig und seelisch? Muss Schule mit einer allgemeinen technischen Bildung gezielt bei dem Prozess helfen?
von Christian Wiesmüller Anno 2010: Linchen (8) darf sich endlich ein Handy aussuchen. Ob sie damit umgehen kann? Zweifellos! Schließlich hat sie schon lange einen Fernseher und eine Stereoanlage im Zimmer, hat mit 5 ein Tamago-tschi gehabt und die Barbie beiseite gelegt. Linchen ist ein modernes Kind. Auch in der Schule hat sie sehr schnell den Computerwahlkurs besucht. Außerdem ist sie es, die bei Ausflügen mit dem Auto das Naviga-tionssystem bedient. Niemand in der Familie klickt sich schneller durch das Menü ... Der Zahnregulierung in ein paar Jahren hat sie schon zugestimmt, und Barbie bleibt insofern prägend, als diese so einen herrlichen Busen hat, wie sie ihn auch einmal haben möchte; sie weiß, dass man da nachhelfen kann. Mit ihrer Freun-din Susi will sie heute wieder „simsen“: mal sehen, was das Familiensimulationsprogramm heute an Über-raschungen bereithält; heute will sie endlich das Schlafzimmer einrichten ... bevor sie jetzt aber von Mami mit dem Auto noch schnell zu Susi gefahren wird – mit dem Radfahren hat sie's nicht – hält sie inne: „Mami, bindest du mir die Schnürsenkel, die Schuhe mit Klettverschluss sind schmutzig?“ Leben in der Techno-Sphäre Das Leben manchen Kindes im eben begonnenen 21. Jahrhundert gestaltet sich durchaus so oder so ähn-lich. Großwerden ist von allerlei Sachzeugen und Systemen geprägt; hilfreichen, weniger sinnvollen, aber auch schlichtweg überflüssigen. Kinder werden unter anderen Umständen als noch im letzten Jahrhundert erwachsen. Die umgebende Technik ist längst nicht mehr allein auf die schlichte Daseinsbewältigung, auf die Schul- und später die Berufsarbeit beschränkt. Weil sie kaum mehr zu überschauen ist, soll sie mit Tech-nosphäre bezeichnet sein: Hervorbringung und Hervorgebrachtes ist durch das Bestimmungswort „Techno“ abgedeckt. Mit dem Grundwort „Sphäre“ ist der Bereich umfangen, der jemanden oder etwas umgibt. Er ist nicht scharf abgrenzbar, aber auch nicht beliebig offen. Doch ist der räumlich und zeitlich bestimmbar (vgl. Wiesmüller 2009, S. 15); Technik ist aus der gewöhnlichen Erfahrung heraus kaum mehr fassbar, wenn man etwa an die Nanotechnik, an künstliche Bioreaktoren oder an Großsysteme wie das Internet denkt. Wer kann auch begreifen, dass ein Airbus 380 mit 600 Tonnen Startgewicht abheben kann?
Die eben aufgeführten Beispiele sind aber eigentlich noch gängige Reviere der Technik: Da geht es um Nanobots, die Arbeiten für den Menschen verrichten, um ein Kommunikations- und Interaktionsnetzwerk oder schlicht um die Indienstnahme der Naturgesetze im gigantischen Maßstab; all das könnte man als klassisch bezeichnen, weil es von der Zweck-Mittel-Funktions-Bestimmung noch um vertraute Anwendun-gen der Technik in der Lebenswelt geht: Da muss Arbeit verrichtet werden, da will man Informationen aus-tauschen und Handel betreiben, da soll im großen Stil etwas transportiert werden. Medium und Option zur Lebensgestaltung Wie bei Linchen angedeutet, ist die Sphäre der Technik aber nicht mehr nur in dem Sinne aufzufassen. Der Philosoph Peter Fischer weitet die zwei technischen Gestaltungen Werkzeug und Maschinen um zwei Mög-lichkeiten aus: Er schlägt vor, Technik einerseits als Medium zu begreifen, und bringt andererseits das Leben als technische Gestaltungsoption ins Spiel (vgl. Fischer 2004). Technik überschreitet damit die im Bewusstsein für die Technik immer noch vorhandenen Grenzverläufe, die mit Schildern wie Zweckerfüllung, Rationalität und Funktionalität markiert sind. Technik wird zu einer mehr und mehr freien Gestaltungsoption und absehbar zu etwas wie einem Schöpfungsakt – individuell und kollektiv. Kurz gesagt wird Technik eine Option zur Lebensgestaltung mit weitreichenden Konsequenzen. Nun ist die Frage, ob die Gesellschaft mit Blick auf die nachwachsende Generation dies schon wahrnimmt und ob sie Vorkehrungen trifft, z. B. in der Bildung. Ein Fach Technik, bei dem Vieles von dem sachkundig thematisiert wird, gibt es in der Regel in den Fachkanons der allgemeinbildenden Schulen nur eingeschränkt. Es gibt informationstechnische Bildung, technisches Werken, Arbeitslehre, wenn überhaupt. Man delegiert blauäugig sicherlich Inhalte technischer Entwicklung in die Fächer Physik, Biologie, Ethik und Religion. Dort aber wird lediglich aus der jeweiligen fachlichen Perspektive auf die Problematik geblickt. Hierbei kommt mutmaßlich der tatsächliche technische Sachverstand zu kurz: In einer demokratischen und individuali-sierten hochtechnisierten Zivilisation aber müssen grundlegende Sachverhalte objektiv vermittelt werden, um zu Erkenntnissen zu gelangen und um schließlich dann z. B. zu guten Entscheidungen zu kommen. Kollektiv: Soll man etwa weiter an der Kernenergie forschen? Soll man ein System für Landverkehr ein-führen, das Geschwindigkeiten über 500 km/h ermöglicht (Transrapid)? Individuell: Wie gläsern will ich sein? Was lasse ich apparatemedizinisch an mir zu? Will ich ein Designerkind haben? Allgemeinbildender Technikunterricht Zur Situation des Technikunterrichts: Es gibt sehr ermutigende technikdidaktische Ansätze und partiell wird sehr guter Technikunterricht in Europa gegeben. Da lernen Kinder und Jugendliche mit Werkzeugen umzu-gehen, lernen, einen geschlossenen Stromkreis aufzubauen, konstruieren ein Modellfahrzeug und steuern mittels CAM eine kleine Produktion. Dies sind wichtige exemplarische Bausteine einer allgemeinen techni-schen Bildung. Kinder und Jugendliche lernen dabei Prinzipielles zur Technik kennen. Sie eignen sich techni-sches Können an, erwerben Sach- und Gesetzeswissen, beurteilen im guten Falle ein Artefakt oder ein technisches System nach Kriterien, erlangen berufliche Orientierung. Reicht das aber hinein in die oben beschriebenen Bereiche? Wie verändert das Handy Linchens tägliches Leben, wie beeinflusst der CD-Player ihr Lernen zu Hause, kann Linchen auch noch eine Atlaskarte zur Orientierung nutzen? Weiß sie, dass jedem technischen Handeln eine Ambivalenz innewohnt, dass z. B. regulierte Zähne eventuell in der zweiten Lebenshälfte in die Ausgangslage zurückstreben und deshalb im Alter früher locker werden, dass einzelne Schönheitsoperationen misslingen können?
Der Autor dieser Zeilen ist überzeugt, dass in der Schule zuwenig mit derlei Fragen umgegangen wird, dass zu wenig verstanden wird, wo Technik ein Geschenk ist und wo sie zum Fluch werden kann. Um dem ein Stück weit abzuhelfen, werden im Folgenden einige methodische Varianten für den Technikunterricht vor-geschlagen, die der geistigen Durchdringung und dem seelischen Ausgleich beim Großwerden dienlich sein sollen. Sie können keinesfalls originäre technische Erfahrungsmöglichkeiten und Methoden ersetzen: Fertigungsaufgabe, Konstruktionsaufgabe, Technikanalyse, Wartungsaufgabe, Rezyklieraufgabe – aber sie sollen sie ergänzen. Experimentelle Methoden Die individuelle Technikbiografie: Jeder Mensch hat seine ganz eigenen, ihn prägenden Erfahrungen und Begegnungen mit Technik. Sie weisen ihn als Person und Persönlichkeit aus, jeden, und manchen sogar dominant. Dies kann in kurzer Erzählung oder Verschriftung sehr gut Gegenstand der Selbst- oder Gruppen-reflexion sein. Das Technikstenogramm: Dieses stellt eine Zwischenform zwischen Gebrauchsanleitung und Vorgangs-beschreibung dar. In ihm geht es maßgeblich um den Umgang mit der Technik, der sprachlich in kurzer Form, also stenogrammartig seinen Ausdruck finden darf. Die Techniktypologie: So wie es andere Typologien gibt (Verkehrsteilnehmer, Bankkunden, Sportler usw.), gibt es auch hinsichtlich der Vorlieben und Abneigungen gegenüber der Technik typische Haltungen und typisches Verhalten und Handeln. Bei Versuchen erwies sich die Auseinandersetzung mit sich selbst als Techniktyp als sehr aufschlussreich. Der Vergleich technischer Detaillösungen: Oftmals ist die Komplexität von Technik ein Hinderungsgrund, sich ihr wirklich eingehend zu nähern. Technische Detaillösungen zentrieren auf ein oder zwei wesentliche Elemente. Nur in Ausnahmefällen sollen mehr als z. B. zwei Lösungen eines funktionalen Details Anlass von Gesprächen sein. Der Blick für ganze Entwicklungsreihen resultiert wie von selbst. Das Kleine Technikmuseum: Einzelne, aber auch Gruppen sollen beim kleinen Technikmuseum nach bestimmten selbstgewählten Kriterien Artefakte zusammenstellen, die z. B. eine Epoche oder eine bestimmte Technologie oder eine bestimmte Kultur in ihren wesentlichen Elementen festhalten. Hieraus entstehen viele Gespräche, bei denen Auswahl und Ausschlüsse begründet werden. Das Richtfest: Der Konstruktion, dem Bau und möglicherweise der Benotung, dem Gebrauch oder dem Anwendungsspiel werden gemeinhin die erforderlichen Zeiträume in der Schule gewidmet. Wie aber steht es mit einem feierlichen Akt, bei dem das Produkt und der Ersteller entsprechend gewürdigt werden, bei dem im Wechselspiel von Werkstolz und Identifikation und innerer Distanz zum Geschaffenen das Gemachte, nicht nur, aber auch gefühlsmäßig in den großen Zusammenhang des eigenen Lebens gestellt wird?
Der Technolog:
Dieser ist ein sehr ausschnitthaftes und bewusst sehr subjektives Selbstgespräch,
z. T. einem spontanen Erlebnis oder einem schon lange gehegten Äußerungswunsch
in schriftlicher Form entsprungen. Technik oder Artefakte werden hier
zum Spiegel des eigenen Ich.
Literatur: Ernst, Heiko: Wir leben in einer Möglichkeitsgesellschaft. In.: Denkanstöße 98. München 1997 Fischer, Peter: Philosophie der Technik. München 2004 Wiesmüller, Christian: Schule und Technik. Die Technik im schultheoretischen Denken. Baltmannsweiler 2006 Wiesmüller, Christian: Technikunterricht als Hilfe zur geistigen und seelischen Bewältigung der Technik. In.: tu – Zeitschrift für Technik im Unterricht Nr. 131/2009
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