Was uns prägt und was uns hilft

Im Unterschied zu Tieren, bei denen manche gelernte Verhaltensweisen nicht mehr veränderbar, also Prägungen sind, geht die Wissenschaft beim Menschen davon aus, dass er sowohl ein extrem anpassungsfähiges Wesen ist, dass er aber alle Erfahrungen integriert und damit Kontinuität schafft.

von Stefan Eikemann

 

Wenn wir uns fragen, was den Menschen prägt, so meinen wir die aus der Herkunft und unserem Umfeld kom-menden Hintergründe unseres Handelns, Fühlens und Denkens. Die drei interessantesten Momente mensch-licher Prägung sollen hier dargestellt werden.

 

Frühkindliche Prägung

Freuds These von der Bedeutung der Kindheit für unser späteres Leben, findet seit 1990 durch die neurologi-sche Forschung Bestätigung durch naturwissenschaftliche Methoden. Es zeigte sich, dass die Einflüsse auf die Ebene, die unser Denken und Fühlen steuert, umso größer sind, je früher sie einsetzen. Unser Umfeld beein-flusst – auf der Basis der Veranlagung – in den ersten Lebensjahren die Ausformung unserer Nervenbahnen. Deren Veränderbarkeit nimmt mit zunehmendem Alter ab. Dies sagt zwar nichts über unseren gesellschaftli-chen Erfolg. Es prägt aber, wie wir uns bewegen, unseren Stoffwechsel, was wir sehen, hören und tasten, wie wir uns fühlen, unsere Fähigkeit zu Glück, unsere Ängstlichkeit usw. – insgesamt einen bedeutenden Teil unseres Selbst.

Wodurch werden wir früh beeinflusst?

In den ersten Wochen unseres Lebens erleben wir einen Zyklus des Wohlbefindens: Hunger und Sattheit. Wenn es gut geht, lernen wir schlechte Gefühle kennen, aber wir merken, sie weichen guten Gefühlen, bevor es zu schlimm wird. Vom ersten Lebenstag an erfahren wir, ob negative Gefühle erträglich und zeitlich begrenzt sind, unerträglich und unbegrenzt, oder ob Gefühle gar nicht vorkommen dürfen. Wärme, Wiedererkennen, Gesichter, Stimmen und Umarmungen sind in dieser Zeit wichtig. Das Kind erfühlt, ob es gesehen wird, ob der eigene Aktiv–passiv-Rhythmus und der der Außenwelt sich aufeinander einstimmen können oder ob sie unvereinbar sind. Ebenso erlebt das Kind, ob es mit dem Saugen sein eigenes Wohlgefühl beeinflussen kann oder nicht, das erste Kompetenzgefühl.

Ab dem 3.-4. Monat bekommt das Kind eine neue Beziehungsaufgabe. Es soll lächeln, wenn es sich gut fühlt. Andernfalls kränkt es die Eltern, und die Beziehung verschlechtert sich. Das Kind erfährt also sehr früh, wie sich Beziehung anfühlt.

Unterstreichen möchte ich, dass auf diese Weise auch die Grundlage für das Denken gelegt wird. Werde ich gesehen, kann ich dem Anderen vertrauen, was bedeutet Trennung, wie sehr fühle ich mich verstanden, wie kann ich meine Gefühle steuern, bin ich kompetent? Später wird uns der eine Gedanke leichter fallen, der andere schwerer. Unser Denken geht auch auf eine vorsprachliche, nicht erinnerte Lebensphase zurück.

Dritte und vierte Chance

Da uns Menschen unsere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gegenüber neuen Situationen auszeichnet, werden wir nach der frühen Kindheit durch wiederholte Erfahrungen, emotionale Atmosphären und länger andauernde Situationen (mehr als durch Einzelereignisse) weiter beeinflusst. Die Erfahrungen unserer frühen Kindheit sind zwar eine, unser ganzes Leben wirksame Grundlage, aber die Entwicklung des Fühlens, des In-Beziehung-Tretens, des Handelns und Denkens geht weiter. Frühe Erfahrungen können Grenzen setzen, die zu überwinden in der Folge sehr schwer oder manchmal unmöglich sein kann, aber wir können innere Hürden umschiffen und Alternativen finden. Die Entwicklung unserer Anpassungsfähigkeit bekommt in Kindheit, Jugend und auch später dritte und vierte Chancen. Die Zeiträume, die es dafür braucht, werden aber länger.

Resilienz

Der interessanteste Ansatz bezogen auf wichtige Einflüsse im Leben geht von der Frage aus: Wie kommt es, dass manche Menschen schwierige, ja traumatische Situationen besonders gut und sogar unbeschadet meistern?

Diese Menschen zeichnet die Fähigkeit aus, Zusammenhänge des Lebens in ihrer Vielfalt und vor allem Wider-sprüchlichkeit zu verstehen, sie haben die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können, und sie sind in der Lage, dem, was geschieht, einen Sinn zu geben.

Woher haben das diese Menschen? Kann Erziehung dazu beitragen?

Nach den ersten Beobachtungen während des 2. Weltkrieges begann man in den 70er Jahren den Einfluss der Kindheit und Jugend auf diese Widerstandsfähigkeit (Resilienz) genauer zu untersuchen.

Schützende Faktoren

Man kennt heute einige Faktoren, die während des Aufwachsens die Resilienz stärken. Die wichtigsten heute bekannten „schützenden Faktoren“ sind folgende:

  • Eine stabile emotionale Beziehung zu einem Elternteil oder einer Bezugsperson;
  • eine langfristige soziale Unterstützung innerhalb und außerhalb der Familie (Nachbarn, Lehrer/in oder Gleichaltrige), vor allem Jugendliche brauchen neben den Eltern erwachsene Bezugspersonen;
  • ein emotional warmes, für Gespräche offenes und gleichzeitig strukturierendes und norm-orientiertes Erziehungsklima;
  • Vorbilder in Elternhaus, Schule, Kirchengemeinde und Jugendgruppe, die aktiv und konstruktiv Lösungen bei Schwierigkeiten oder Veränderungen suchen und sich dafür die notwendige Hilfe holen;
  • soziale Verantwortlichkeit (z. B. Sorge für Verwandte oder Freunde) und Leistungsanforderungen (z. B. Pflichten in Familie und Schule) und eine angemessene Begleitung innerhalb dieser Anforderungen; erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit zu Verzicht und die Notwendigkeit, dass Gewünschtes „erarbeitet“ werden muss;
  • die Erfahrung, dass einem selbst etwas gelingt, dass man kompetent ist, und die Rückmeldung, dass man wertvoll ist;
  • Erziehung zu realistischen Erwartungen und Neugierde;
  • Glaube: Erfahrung von Sinn, Struktur und Bedeutung in der eigenen Entwicklung und positive Haltung zu Leben und Umwelt.

Man erkennt hier neben der Wichtigkeit der Familie, dass auch vom gesellschaftlichen Umfeld wichtige schützende Faktoren ausgehen. Lehrkräfte, Trainer/innen, Priester, ja alle Erwachsenen können sich als Bezugsperson und langfristige Gesprächspartner für Kinder und Jugendliche anbieten. Kinder brauchen vor allem konkrete Hilfe an Stellen, an denen sie überfordert sind, und Jugendliche benötigen Begleitung (nicht das Abnehmen der Aufgaben) auf dem Weg von der Kindheit in die Gesellschaft hinein.

Es gibt auch Umstände, die die Resilienz schwächen (Vulnerabilität): Migration, Arbeitslosigkeit, Eineltern-familie, Verlust eines Elternteils, chronische Disharmonie in der Familie, Sucht oder chronische schwere Krankheit eines Elternteils, Delinquenz eines Elternteils, Missbrauch.

Diese Umstände sind vor allem deshalb schwächend, weil es oft an stärkenden Faktoren mangelt. D. h. diese Familien müssen unterstützt werden. Noch wichtiger ist aber, dass auch pädagogische Institutionen und Mitmenschen mit den davon betroffenen Kindern auf stärkende Weise wirksam werden.

Prägung durch das gesellschaftliche Umfeld

Grundüberzeugungen und Regeln unserer Gesellschaft scheinen oft selbstverständlich, sie sind aber auch ständiger Veränderung unterworfen und manchmal widersprüchlich.

Drei Beispiele: Von 1870 bis 1970 gab es die Überzeugung, dass Arbeit zu Wohlstand und Glück führt, heute ist diese Überzeugung immer weniger wirksam.

Jugend als Lebensphase ist maximal 50 Jahre alt. Davor war man bis 13 Kind und mit 14 ging man arbeiten, man war ein kleiner Erwachsener, der z. B. durch den Lehrherrn in die Aufgaben der Erwachsenen eingeführt wurde und man wurde daran gemessen, wie gut man es schon konnte.

Ebenso gab es zwischen 1870 – 1970 die Grundüberzeugung, dass Verantwortung und Korrektheit wichtig sind. Heute ist dieser Wert ins Wanken gekommen. Sogar mit Gesetzen, die Verantwortlichkeit erzwingen sollen, erreicht man das Gegenteil.

Die Prägung junger Menschen durch Regeln und Werte orientiert sich weniger an offiziell verkündeten Werten, sondern daran, welche Werte „funktionieren“ und real hinter unserem Handeln sichtbar werden. Wichtiger als das Reden über Regeln und Werte ist also die Frage, ob bei uns Erwachsenen bei aller Ambivalenz noch eine Grundlinie erkennbar ist oder ob wir aus Überforderung zu oft weg schauen.

Begleitung ist hilfreich

Ohne die heutige Werteentwicklung kommentieren zu wollen, ist mir an dieser Stelle wichtig, darauf hinzu-weisen, dass es die Erwachsenen seit der Einführung der Jugend immer weniger schaffen, junge Menschen in die Gesellschaft hinein zu begleiten. Als kleine Erwachsene war deren Begleitung als Arbeitskraft sicher-gestellt. So sehr wir die Jugendlichen mit der emotional schwierigen Aufgabe der Jugend beim Übergang in die Erwachsenenwelt alleine lassen, so sehr brauchen wir sie aber. In einigen Welten der Jugendlichen entwickeln sich Werte und Regeln, die sich von der Erwachsenenwelt so weit entfernen, dass der Eintritt in die Arbeits-realität zum Schock wird oder gar nicht gelingt.

Hilfreiche Prägung ist von Beginn an anstrengend. Die Räume dafür entstehen in persönlichen Beziehungen zwischen Erwachsenenwelt und Heranwachsenden. Jeder von uns sollte sich dafür täglich ein wenig Zeit nehmen.
 
 

Stefan Eikemann ist Direktor

der Familienberatungsstellen

in Südtirol. Im Zentrum seiner

Arbeit stehen Paartherapie,

Familientherapie, Therapie mit

Jugendlichen und Einzelberatung.

 

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