„…die sich selbst zur Brücke machen.“ Über Aufklärer, Erzähler und die dritte ChanceZugegeben, manche halten die Geschichten von Jack Canfield und Mark Victor Hansen schlichtweg für Kitsch. Die Geschichten aus den Hühnersuppe für die Seele - Büchern sind Geschichten, die das Herz erwärmen, zusammengetragen aus der ganzen Welt, Geschichten von Menschen, die jemandem begegnet sind, der sie beeindruckt, der sie geprägt hat und deren Leben dadurch eine Wendung nahm. von Marlene Kranebitter Viele dieser Geschichten sind dem Lehren und Lernen gewidmet und eine davon trägt den Titel „An Beths Lehrerin aus der ersten Klasse“. Ein Vater schildert seine Empfindungen am ersten Schultag seiner Tochter. Er hofft inständig, dass Beths Lehrerin erkennt, mit welcher Hingabe das kleine Mädchen sich auf den ersten Schultag vorbereitet hat und er bittet die Lehrerin, sein Kind an die Hand zu nehmen und es ein Stück des Weges zu begleiten. Als ich die Geschichte las, fiel mir jener Septembermorgen vor über zehn Jahren wieder ein. Unsere kleine Tochter hatte damals ihren ersten Schultag. Lustiger Pferdeschwanz, neue schwarz-glänzende Lackschuhe und in den Augen eine unbeschreibliche Mischung aus Neugier und froher Erwartung, die ich nachher nur mehr ganz selten entdecken durfte. Ich stand beim Eröffnungsgottesdienst ein paar Reihen dahinter und konnte es nicht fassen, wie schnell die Jahre verflogen waren. Der viel zitierte Ernst des Lebens wartete auf unsere Tochter, die sich doch nichts sehnlicher wünschte, als endlich Lesen und Schreiben zu können. Ich verspürte damals Angst. Was würde auf uns zukommen? Wem würde unsere Tochter begegnen? Wer würde ihren Schulalltag prägen? Wir Eltern überließen unsere Tochter vier und mehr Stunden pro Tag fremden Menschen. Die Erziehung würde nicht mehr nur unsere Angelegenheit sein. Angst war an jenem Tag dabei und wohl auch ein bisschen Eifersucht, weil uns die Frau Lehrerin sicher Konkurrenz machen würde. Die Bedeutung des Lehrerberufs habe ich nie wieder so intensiv gespürt wie an jenem Septembermorgen und dabei war ich damals selber schon lange Lehrerin. Erinnerungen Szenenwechsel. Deutschunterricht in der Oberstufe der Hotelfachschule Bruneck vor wenigen Wochen. Über eine Lehrperson zu schreiben, die sie besonders beeindruckt hat, dieses Ansinnen sorgt bei den Schülern sofort für Wirbel. Und dann kommen Geschichten von Lehrpersonen, die zu wenig erklärt und zu viel verlangt haben, von Lehrpersonen, die ihre Schüler bloßgestellt haben, die nach Sympathie bewertet haben, die launisch waren. Jaja, natürlich, es habe schon auch Lehrpersonen gegeben, die sich um ihre Schüler bemüht hätten. Jaja, es gebe schon auch gute Erinnerungen. Unvermittelt kehrt Ruhe ein und die jungen Leute beginnen zu schreiben, mit einer herrlichen Offenheit und entwaffnend unverblümt. So manche Verletzung ist zwischen den Zeilen immer noch spürbar, hin und wieder wird sie auch ganz deutlich ausgesprochen: „Stunde für Stunde saß ich verängstigt und mit Bauchschmerzen in meiner Bank und hoffte, dass es mich nicht trifft.“ Spürbar ist aber auch die Begeisterung darüber, dass es Lehrpersonen gegeben hat, „die cool und streng zugleich“ waren, die ein offenes Ohr für alle möglichen Probleme hatten und „die es wagten, hinter die Fassade zu schauen.“ Wenn Lehrpersonen zu ihren Schülern gehalten haben „in guten wie in schlechten Zeiten“, blieb das ebenso in den Herzen der Jugendlichen verankert wie die Tatsache, „dass sich ein Lehrer für uns eingesetzt hat, obwohl wir das eigentlich gar nicht verdient hatten.“ Prägend wirkten offenbar jene Lehrpersonen, die „Aufklärer“ waren, die „etwas von sich selber erzählten“ und die den Schülern das Gefühl gaben, „dass sie uns mögen.“ Grenzen setzen können Ein paar Tage später stelle ich dieselbe Frage in einer anderen Klasse. Auch hier wieder lautes Erstaunen und eine Menge an Geschichten. Nach dreizehn Jahren Schule, da könne man schon so einiges erzählen. Nicht nur trockenen Unterrichtsstoff möchten die Schüler vermittelt bekommen, sondern die Lehrpersonen sollten „vom wirklichen Leben erzählen.“ Und geprägt hätten sie vor allem jene Lehrpersonen, „die mit uns umgehen konnten, ohne laut zu werden oder schimpfen zu müssen.“ Grenzen setzen zu können und eine zweite, vielleicht auch eine dritte Chance zu geben, wenn die Grenzen überschritten worden waren, das rechnen Schüler ihren Lehrern hoch an „und zwar ein Leben lang“. Während ich mich durch die zum Teil sehr berührenden Texte arbeite, fällt mir auf, dass es bei all den Erinnerungen eigentlich fast nie um Unter-richtsfächer geht, sondern immer um die Lehrpersonen, die „mit Begeisterung“ dahinter standen, die „fair und authentisch waren“. Was die Freude am Fach betrifft, so gibt es, und das ist für eine berufsbildende Schule etwas ungewohnt, keinen Unterschied zwischen den Theorie- und Praxisfächern, solange die Lehr-person imstande war, zu den Schülern eine echte Beziehung aufzubauen. Noch ein letzter Szenenwechsel. Als ich mich im vergangenen Juni in der allerletzten Unterrichtsstunde von „meinen“ Maturantinnen und Maturanten verabschieden wollte, versagte beinahe meine Stimme. Drei Jahre lang hatten wir uns gemeinsam durch den Schulalltag gekämpft, hatten diskutiert, gelacht, manch-mal auch gestritten. Natürlich gab es auch die eine oder andere Verletzung, vielleicht blieb sogar die eine oder andere Narbe, aber wir haben viel voneinander gelernt. Lehrpersonen sind Brücken Lehrer sind Menschen, die sich selbst zur Brücke machen, um ihre Schüler darüber zu führen. Mit diesem Zitat des griechischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis war das Kapitel über das Lehren und Lernen im Hühnersuppenbuch überschrieben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich selber immer zur Brücke gemacht habe. Vor allem in meinen ersten Jahren als Lehrerin dürfte ich meine Schüler so manches Mal haben mit meiner Impulsivität und meiner etwas starren Auffassung von dem, was in meinen Augen richtig zu sein hatte, erschreckt haben. Gelassenheit und Großzügigkeit werden einem nicht unbedingt in die Wiege gelegt und die Pfeiler der Brücke mussten erst langsam errichtet werden. So mancher meiner Schüler hat mich geprägt durch ehrliche Worte, auch wenn auch der Ton nicht immer passend war, durch die Bereitschaft zum Gespräch, auch wenn die Fronten verhärtet schienen, und durch jene Portion Kompromisslosigkeit, die für die Jugend typisch ist und der wir Erwachsenen wohl hin und wieder nachtrauern. |
PRAXIS |
---|