GLOBAL ODER REGIONAL?

Ursachen wirtschaftlicher Entwicklung

Die internationalen Verflechtungen der Wirtschaft verzeichneten in den letzten Jahrzehnten einen starken Zuwachs. Umso mehr lohnt es sich, auf regionale Entwicklungen und deren Nachhaltigkeit zu achten und u. a. auch zu fragen: Welche natürlichen Ressourcen sind in einer Region vorhanden? Wie decken die Menschen ihren Bedarf an Nahrung, Wohnung, Kleidung, Arbeit, Bildung und Freizeit? Welche herkömmlichen Wirtschaftszweige gibt es?

von Franz Mathis

Die wirtschaftliche Entwicklung verschiedener Länder erlaubt zwei Schlussfolgerungen: Zum einen waren es viel mehr regionale und weit weniger globale Bedingungen, die einige hoch entwickelte, reiche Gesellschaf-ten in der Ersten und sehr viel mehr wirtschaftlich unterentwickelte Gesellschaften mit weit verbreiteter Armut in der Dritten Welt entstehen ließen. Zum anderen war und ist wirtschaftliche Entwicklung keine gesamtnationale Angelegenheit, sondern die Summe mehrerer regionaler Entwicklungen, die dann das Bild eines reichen oder armen Landes ergeben.

Beispiel Amerika

Obwohl beide Amerikas nach der Entdeckung durch Kolumbus 1492 zunehmend in den globalen Handel miteinbezogen wurden, verlief ihre wirtschaftliche Entwicklung ganz unterschiedlich. Der Großteil des Doppelkontinents von Argentinien im Süden bis Mexiko im Norden zählt bis heute zur Dritten Welt, während die USA und Kanada seit mehreren Jahrzehnten zu den reichsten Ländern der Welt gehören. Dies ist letztlich auf inneramerikanische Faktoren, nämlich das deutlich dichtere Netz von Großstädten im Nordosten der USA und im östlichen Kanada zurückzuführen. Hier entstanden infolge überdurchschnittlich starker Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Montreal, Chicago, Baltimore, New York und Boston eine Reihe von Großstädten mit jeweils mehreren 100.000 Einwohnern, deren geballte Massennachfrage eine bis dahin unbekannte, industrielle Massenproduktion auslöste. Letztere erhöhte die Produktivität der mensch-lichen Arbeit und erlaubte die enorme, in allen Industriegesellschaften zu beobachtende Zunahme verfüg-barer Güter und Dienstleistungen.

Beispiel Europa
Obwohl die im 19. Jahrhundert aus den Südstaaten der USA eingeführte Rohbaumwolle in Europa zur Grund-lage einer mechanisierten Massenproduktion von Baumwollwaren wurde, war es nicht der transatlantische Handel, der sie auslöste, sondern die hier bereits um 1800 und danach entstandene Massennachfrage in den west- und mitteleuropäischen Großstädten – allen voran London, das um 1800 als erste Stadt der Welt eine Million Einwohner zählte. Zwar war die Rohbaumwolle eine wichtige Voraussetzung der frühen Industriali-sierung, doch hätte sie außer nach West- und Mitteleuropa auch nach Ost- und Südeuropa importiert werden können, was jedoch in viel geringerem Ausmaß der Fall war. Einzelne Großstädte wie Neapel im Süden oder Moskau und St. Petersburg im Osten reichten nicht aus, um eine ähnlich flächendeckende Industrialisierung zu stimulieren wie das viel dichtere Netz von Großstädten im Nordwesten und im Zentrum Europas .

Beispiel Asien

Die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung von Indien und China auf der einen und Japan auf der anderen Seite könnte mit der lange Zeit unterschiedlich starken Einbeziehung in die Weltwirtschaft zu erklären versucht werden. Allerdings begann die Industrialisierung in dem bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vom Weltmarkt relativ abgeschotteten Japan erst nach der auch dort zum Teil gewaltsam, zum Teil freiwillig erfolgten Öffnung des Landes für europäische und amerikanische Händler. Noch vor 1900 setzte in Japan ein breiter Industrialisierungsprozess ein, während sich sowohl die britische Kolonie Indien als auch das unab-hängige China bis weit ins 20. Jahrhundert nur ansatzweise industrialisierten und bis heute zu den ärmeren Ländern der Welt zählen. Dafür zeichneten auch in diesem Raum regionale Unterschiede verantwortlich, nämlich das damals viel dichtere Netz von Großstädten wie Tokio, Osaka und Kyoto, die sich im Unterschied zu Bombay, Madras, Kalkutta, Hongkong oder Shanghai auf einen relativ engen Raum konzentrierten.

Beispiel Dritte Welt

Wenn in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten auch in den Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens trotz vielfach anhaltender, wirtschaftlicher Unterentwicklung eine verstärkte Industrialisierung eingesetzt hat, mag dies zum Teil zwar mit dem gewachsenen Welthandel zusammenhängen, da über die Exporterlöse zumindest in manche dieser Länder Kapital floss, das für industrielle Investitionen zur Verfügung stand. Allerdings konzentrierten sich die neuen Industrieanlagen in hohem Maße auf die meist mit den Hauptstädten identischen Ballungszentren, die dank einer anhaltend starken, durch die rasche Bevölkerungszunahme bedingten Landflucht geradezu explosionsartig auf jeweils mehrere Millionen Einwohner anwuchsen. Neben einer verstärkten Slum-Bildung hatten und haben sie eine Massennachfrage zur Folge, die – wie 100 bis 200 Jahre zuvor in Europa, den USA, Kanada und Japan – auch eine stärkere Industrialisierung zu stimulieren vermag.

Beispiel Italien

Auch in Italien lässt sich die stärkere und vor allem flächendeckende Industrialisierung des Nordens mit dem im Vergleich zum Süden sehr viel dichteren Netz von Großstädten. erklären. Während der Norden somit eindeutig den Gesellschaften der Ersten Welt zuzurechnen ist, erinnert der Süden in vielerlei Hinsicht an Verhältnisse in der Dritten Welt. Wenn Italien heute dennoch zu den reichen Ländern der Welt gehört, ist dies daher weder etwaigen stärkeren globalen Vernetzungen noch etwaigen gesamtstaatlichen Faktoren, sondern dem insgesamt stärkeren Gewicht der nördlichen gegenüber den südlichen Regionen zu verdanken.

Beispiel Tirol

Wie sehr regionale und weniger nationale Bedingungen die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen, wird schließlich auch am Fremdenverkehr in Nord- und Südtirol sowie in anderen alpinen Regionen deutlich. Es sind zum einen die spezifischen natürlichen Voraussetzungen, die im Sommer wie im Winter auf Touristen eine besondere Attraktion ausüben, zum anderen die Nähe kaufkräftiger Gäste nördlich und südlich der Alpen, die es sich leisten können, ihren Urlaub in Tirol zu verbringen. Beides – natürliche Voraussetzungen und kaufkräftige Gäste – sind regionale und keine nationalen Bedingungen, die in anderen Regionen der Welt, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einzelnen Ländern, nicht im selben Ausmaß gegeben sind.

 

Franz Mathis ist  Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Innsbruck und Dozent an der Freien Universität Bozen in Brixen.

THEMA