Wie ein trudelndes Kaleidoskop

Interview mit dem Psychiater Ingo Stermann - Teil 2

In „forum schule heute“ H. 5/2009 lasen Sie den ersten Teil des Interviews mit Ingo Sterman. Im zweiten Teil geht es nun um das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und um medizinische und psychiatrische Versuche, die darauf abzielen, dieser Krankheit entgegen zu wirken

f: Ist ADHS eine Krankheit?

Ingo Stermann: Zunächst steht das Kürzel für eine beschreibende Diagnose mit Augenmerk auf zwei Auffällig-keiten, d. h. es handelt sich um Kinder und Jugendliche, denen man einerseits eine gestörte Aufmerksamkeit und andererseits eine vorschnelle, impulshafte und andauernd übersteigerte körperliche Unruhe und Rastlosigkeit anmerkt. Das kann in ver-gleichbarer Weise beobachtet und gemessen werden.

Mit alledem ist aber noch nichts über die Gründe ausgesagt, die vielfältig sein können: Wenn ein Kind regelmäßig erst um 23 Uhr ins Bett geht und morgens dann zur selben Zeit wie die Altersgenossen in die Schule muss, dann wird dieses Kind müde, unkonzentriert und möglicherweise auch körperlich sehr unruhig sein, also an der Oberfläche wie ein Kind mit ADHS wirken.

Ähnliches kann man bei Kindern beobachten, die ständig mit Stimuli aus dem Bereich des Erwachsenenlebens konfrontiert werden, etwa mit massiven Gewaltszenarien oder Pornographie, die sie weder verstehen noch verdauen können, weshalb sie fortgesetzt innerlich damit beschäftigt sind. Wenn sie nur ein wenig extravertiert und kommunikativ veranlagt sind, werden sie versuchen, diese intrapersonal virulenten Störfaktoren irgendwie – gestisch, mit Worten, mit szenischen Handlungen oder einfach nur mit größter körperlicher Unruhe – aus sich heraus und nach außen abzuführen. Sicher wirken sie dadurch im schulischen Ambiente – ganz ähnlich wie ADHS-Kinder – unaufmerksam, unruhig, störend, provokativ.

Deshalb bedarf es einer eingehenden und alle Lebensbereiche und Bezugspersonen einbeziehenden Diagnostik, um unter der Verhaltensoberfläche die – im Wortsinn – bewegenden Gründe solchen Verhaltens aufzuspüren.

In Abgrenzung zu den oben skizzierten Ursachen ist ADHS im naturwissenschaftlichen Sinne eine genetisch bedingte Schwäche des Gehirns, einige seiner höchstentwickelten Funktionen geordnet, kontrolliert und zielführend zu nutzen: Was nicht gelingt, ist die hinreichend wache und rasche Aufnahme und entscheidungs-vorbereitende Bewertung aller aus der Umwelt und aus dem Körperinneren kommenden Sinneseindrücke. Die Signale können nicht gut nach Wichtigkeit gefiltert und die Reaktionen nicht genügend gut auf ihre Folgen hin überdacht werden; folglich wirkt das resultierende Verhalten unstet, überschießend, impulshaft, weder rück-sichtsvoll noch vorausschauend.

f: Wie lässt sich ADHS zuverlässig diagnostizieren?

Stermann: Italien hat dafür ein zukunftsweisendes Projekt gestartet. Seit ca. drei Jahren gibt es das nationale ADHS-Register. Das ist ein großes diagnostisches Inventar, mit dem man versucht, dieses breite Feld von Auffälligkeiten besser zu verstehen. Es setzt sich zusammen aus Interviews mit Eltern, Lehrpersonen, Fragebögen, Tests und klinischen Untersuchungen. Am Ende steht dann eine Diagnose. Unter vielen anderen Diagnosen kann das auch ADHS sein. In diesem Falle ist – nicht als einzige, nicht selten aber als sehr wirkungsvolle Behandlungsmöglichkeit – auch an den Einsatz spezifisch wirkender Medikamente zu denken. Das (jederzeit auch ohne Angabe von Gründen zurücknehmbare) Einverständnis der Eltern nach vorhergehender Aufklärung über alle Wirkungen, Nebenwirkungen und Alternativbehandlungen ist dabei die Voraussetzung. Wenn das betreffende Kind auf die Medikation gut anspricht, merken das alle Bezugspersonen in seinem sozialen Umfeld, nicht nur die Schule. Dabei kommt es nicht, wie oft gesagt wird, zu einer Persönlichkeitsveränderung, wohl aber zu einer verbesserten Fähigkeit, „ich selbst“ zu sein: die Welt und die eigenen Person nicht nur wie ein trudelndes Kaleidoskop wahrzunehmen, sondern sich eine überlegte, zuverlässige Vorstellung davon zu machen und dementsprechend Entscheidungen zu treffen und zu handeln.

f: Steht dahinter nicht die Gefahr, sich zu sehr auf das Medikament, z.B. "Ritalin", zu verlassen? Geplagte Eltern sehen die für sie erleichternde Wirkung der Tabletten und könnten dazu neigen, sie immer wieder einzusetzen.

Stermann: So ist es wohl oft in Deutschland und in den USA passiert. Bei irgendeiner gegebenen Leistungs-störung lässt man es einfach auf einen Versuch ankommen – wenn's funktioniert, sind alle „zufrieden“. Leistungsorientierte Gesellschaften pushen solche Vorgehensweisen im Namen der Effizienz ja gerne. Das nationale italienische ADHS-Register möchte genau dieser Dynamik einen Riegel vorschieben, indem zuerst einmal eine eingehende Diagnostik verpflichtend ist, bevor die erste therapeutische Überlegung stattfindet. Eigentlich ist dieser Gedanke ja urärztlich und banal, aber die trial-and-error-Methode bzw. das Erschließen der Diagnose „ex iuvantibus“ ist die vermutlich noch weitaus ältere Strategie. Deshalb ist es richtig, die Therapie, vor allem den Medikamenteneinsatz nach einem Reglement und unter strenger Aufsicht durchzuführen.

Wenn man davon ausgeht, dass bei ADHS-Kindern eine genetische Störung des Gehirnstoffwechsels vorliegt, die zu einer substantiellen Mangelsituation führt, dann ist das Medikament die Kompensation für diesen Defekt. Natürlich ist es leicht und augenfällig, hier von einer Abhängigkeit zu sprechen: Ich bin von dieser Tablette abhängig, damit ich hinreichend funktioniere.

Im medizinischen Verständnis bedeutet Abhängigkeit dagegen eine Entwicklung, bei der ich immer mehr von einer bestimmten Substanz nötig habe, um eine bestimmte psychophysische Verfassung zu erreichen; bleibt die Substanzzufuhr aus, entwickle ich spezifische Entzugsbeschwerden. Das passiert bei Ritalin nur, wenn es absichtsvoll, missbräuchlich und in kontraindizierter Weise zugeführt wird (geschnupft oder gespritzt); bei dem Alternativmedikament Atomoxetin ist nicht einmal das zu erwarten.

f: Der Wirkstoff beseitigt aber nur die symptome und nicht die Ursachen, etwa die Veränderungen in der Gesellschaft, die Sie vorher als eine der Ursachen für die zunehmenden psychischen Probleme ausmachten. Plakativ: Ritalin stellt das Kind ruhig, kittet aber nicht die zerbrochene Familie.

Stermann: Es stimmt, dass das Kind durch eine wirkungsvolle Medikation im Sinne unserer Gesellschaft wieder leistungsfähig wird. Es wird aber auch spielfähig und in jedwedem Umgang mit anderen Menschen bedachter und differenzierter in seiner Beziehungsfähigkeit, nicht nur in der Schule. Dass es sich um eine Störung handelt, die 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr besteht, muss immer wieder deutlich gemacht werden.

 

Man muss sich auch fragen, wie unsere Gesellschaft auf Menschen wirkt, die diese genetische Störung haben. Wenn man moderne Filme oder Videoclips analysiert, stellt man fest, dass Einstellungen und Szenen dort im Sekundenrhythmus wechseln. Das passt ADHS-Kindern natürlich gut! Das entspricht genau der kurzen Spanne ihrer Aufmerksamkeits-fähigkeit und ihrem zeitlichen Erleben. Aber wer trainiert mit ihnen Daueraufmerksam-keit, Stillbeschäftigung, Beobachtung und Geduld?

 

Gerade für Kinder und Jugendliche mit ADHS ist es wichtig, dass die Eltern Zeit für sie haben, dass es konstante Bezugsrahmen, Begegnungsmöglichkeiten und Werdegänge gibt. Dazu gehört unweigerlich auch das Nahe-bringen und Behaup-ten von Grenzen und Regeln. Dem steht unser Zeitgeist entgegen, demzufolge Kinder nur genügend Freiheit brauchen, um sich gut zu entfalten. Genügend Freiheit braucht es schon, aber das heißt nicht, dass sie grenzenlos ist und dass Kinder keine Orientierung und Auseinandersetzung über Regeln und Respekt nötig haben.

f: Manchmal hat man das Gefühl, "Aufmerksamkeitsdefizit" ist eine Allerweltsdiagnose für abweichende Schüler/innen.

Stermann: Oder das Gegenteil: „Das Kind ist ja bloß schlecht erzogen!“ Manchmal trifft das ja auch zu. Diese Beobachtungen unterstreichen die Notwendigkeit einer guten Diagnostik. All das muss ergänzt werden durch viel Dialog. Eltern und Schule müssen miteinander reden, Psychiatrie und Pädagogik brauchen mehr Austausch. Da müssen wir Psychiater uns selbst an die Nase fassen: Wir müssen uns in die pädagogische Welt hinein-begeben, und die ist für uns Ärzte meist eine terra incognita, denn Pädagogik steht nicht auf dem Ausbildungs-plan des Medizinstudiums.

f: Im Februar 2008 wurde in Meran ein Kompetenzzentrum für ADHS und Teilleistungsstörungen eingerichtet. Wie funktioniert das?

Stermann: Das ist Teil des nationalen Plans zur Implementierung des ADHS-Registers. In allen Regionen wurden italienweit solche Zentren eingerichtet. In der Autonomen Provinz Bozen gibt es drei: in Meran, Bozen und Brixen.

f: Können Schulen diesen Dienst anfordern oder blöeibt das den Eltern überlassen?

Stermann: Die Schulen wenden sich bei auftretenden Störungen meist an die Psychologischen Dienste. Dort beginnt die Diagnostik. Eltern können sich auch direkt an die Zentren wenden.

f: Dazu gibt es eine Arbeitsgruppe. Liegen auch konkrete Ergebnisse vor?

Stermann: In der von Ihnen angesprochenen Arbeitsgruppe ging und geht es vor allem um die Frage, ob Schulen nicht einen eigenen Psychologischen Dienst bekommen sollten. Derzeit ist das nicht der Fall.

f: In den Krankenhäusern von Bozen, Brixen und Bruneck wurden in der Vergangenheit häufig auch Elektro-schocks zur Ruhigstellung von psychiatrischen Patienten angewendet. Ist das eine zeitgemäße Methode?

Stermann: Die Elektrokrampftherapie hat eine präzise Indikation, die nichts mit Ruhigstellung zu tun hat. Sie betrifft die schwersten Formen von Depression oder Schizophrenie.

f: Wird sie auch bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt?

Stermann: Zum Glück manifestieren sich die aus dem Erwachsenenalter bekannten großen Psychosen relativ selten schon im Jugendalter. Da die Elektrokrampftherapie meist als ultima ratio bzw. nur bei schwersten Krisen eingesetzt wird, tritt diese Fragestellung im Kindes- und Jugendalter nur höchst selten ein.

Die Fragen stellte Johannes Kofler.

 

DIS

KUS

SION