Armut und Bildungschancen

Befunde aus zwei Kinderstudien in Deutschland

Gegenwärtig steigen die Kinderarmuts-Zahlen in Europa an. Umso drängender stellen sich Fragen nach den Zusammenhängen eines Aufwachsens in Armut und Bildungschancen. Die World Vision Kinderstudie und die Bepanthen Kinderarmutsstudie setzen hierzu an den Perspektiven der Kinder an.

von Susann Fegter

 

Bei der Frage nach Zusammenhängen und Herausforderungen, die sich für Schulen, Sozial- und Bildungs-politik stellen, setzen neuere Ansätze der Kindheitsforschung bei den Kindern selbst an und machen sie zum Ausgangspunkt der Forschung. Statt Erwachsene über Kinder zu befragen, werden diese selbst in den Mittelpunkt gestellt und als „Experten ihrer selbst“ betrachtet. Diesem Ansatz folgen die World Vision Kinder Studie (2007) und die Bepanthen Kinderarmutsstudie (2009). Sie zeigen, dass und wie sich das Aufwachsen in Armut auf Gestaltungsspielräume und das Selbstvertrauen von Kindern auswirkt und so Einfluss auf ihre Bildungschancen nimmt.

Die World Vision Kinderstudie hat knapp 1.600 Kinder in Deutschland im Alter von 8 bis 11 Jahren stan-dardisiert über Familie, Schule, Freizeit und Freunde befragt. Armut wird in dieser Studie als Lebenslage verstanden. Ein Schichtenindex kombiniert das Bildungsniveau der Eltern, das häusliche Nettoeinkom-men sowie verfügbare materielle Ressourcen. Bei der Bepanthen Kinderarmutsstudie waren dagegen nur Kinder einbezogen, die als arm verstanden wurden. Das Sample umfasste 200 Kinder aus Hamburg und Berlin, die im Sommer 2008 an einer Ferienfreizeit des christlichen Kinderhilfswerks die ARCHE teil-genommen haben. Das Erkenntnisinteresse dieser ethnografisch angelegten Studie war auf die Vorstel-lungen der Kinder von einem guten Leben gerichtet, aber auch darauf, was sie in ihrem Alltag als unter-stützend erleben.

Aufwachsen in Armut - Risikofaktoren

In Deutschland ist die Zahl der von Armut betroffenen Kinder deutlich angestiegen. Nach Berechnungen des Deutschen Jugendinstituts von 2009 hat sich das Armutsrisiko von Kindern unter 15 Jahren zwischen 2000 und 2006 von 15,7% auf 26,3% erhöht. Jedes vierte Kind in Deutschland lebte damit 2006 in einer Familie, die über weniger als 60% des durchschnittlichen Nettoeinkommens verfügen konnte. Auch die World Vision Kinderstudie hat sich mit Armut befasst und gezeigt, dass 2007 etwa 13% der Familien mit Kindern zwischen 8 und 11 Jahren sehr schlecht oder schlecht mit ihrem Einkommen leben konnten. Dabei wurden Risikofaktoren deutlich, die sich für Kinder als Armutsfallen erweisen: An erster Stelle steht die Arbeitslosigkeit der Eltern. An zweiter Stelle folgt das Aufwachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil, auch wenn dieser einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Beide Faktoren sind hoch mit der Zuge-hörigkeit zur unteren Herkunftsschicht korreliert. Der Migrationshintergrund ist für sich genommen kein Risikofaktor, jedoch sind viele Familien mit Migrationshintergrund von Arbeitslosigkeit betroffen.

Ungleiche Kindheiten - Erfahrungen der Kinder

In der World Vision Kinderstudie wurden die Kinder nach ihren Erfahrungen und Einschätzungen zu ver-schiedenen Lebensbereichen befragt. Der zentrale Befund ist, dass die soziale Herkunft die Selbst- und Weltwahrnehmung von Kindern in Deutschland maßgeblich beeinflusst. Zusammenhänge zwischen kind-lichen Erfahrungswelten und sozialer Herkunft stellen sich wie folgt dar:

  • Jedes zehnte Kind zwischen 8 bis 11 Jahren besuchte 2007 ein Gymnasium, jedoch nur 1% der Kinder aus der unteren Herkunftsschicht im Vergleich zu 18% der Kinder aus der oberen Herkunfts-schicht. Im Kontrast dazu stehen die Zahlen der Kinder an Förderschulen : Bei Kindern aus der unteren Herkunftsschicht liegt der Anteil bei 19% , bei Kindern aus der Oberschicht bei 1%.
  • Bereits im Alter von 8 bis 11 Jahren zeigen sich deutliche Differenzen in den angestrebten Schul-abschlüssen: In der unteren Herkunftsschicht geben nur 20% der Kinder an, später einmal Abitur zu machen, im Gegensatz zu 81% der Kinder aus der Oberschicht.
  • Fast die Hälfte der Kinder aus der unteren Herkunftsschicht sagt aus, „dass es ihnen in der Schule nicht so gut gefällt“, während sich Kinder aus den anderen Herkunftsschichten überwiegend wohlfühlen.
  • In der Familie erleben 53% der Kinder aus den unteren Herkunftsschichten „öfters mal“ oder „regelmäßig“ familiäre Streitereien, in der Oberschicht nur 25%.
  • Je niedriger die soziale Herkunftsschicht desto höher auch die Betroffenheit von elterlicher Gewalt. 37% der Kinder aus der untersten Herkunftsschicht bekommen häufiger Ohrfeigen oder eine Tracht Prügel, in den anderen Herkunftsschichten maximal 13%. Besonders Jungen aus der unteren Herkunftsschicht sind von elterlicher Gewalt betroffen (48%).
  • Je gehobener die Herkunftsschicht, desto besser die soziale Integration der Kinder in Freundes-kreise: 48% der Kinder aus der unteren Herkunftsschicht sind in dieser Hinsicht latent problema-tisch und 14% sogar unzureichend sozial integriert.
  • Auch die Betroffenheit von Mobbing ist schichtspezifisch: 60% der Kinder aus der unteren Her-kunftsschicht erleben Mobbing „manchmal“ oder „oft“ im Vergleich zu 37% aus der Mittelschicht und 27% aus der Oberschicht.
  • Die Eingebundenheit in Vereine und Gruppen ist eine Frage der sozialen Herkunft: Während sie für Kinder aus der Oberschicht Normalität ist (89%), sind Kinder aus der unteren Herkunftsschicht nur zur Hälfte institutionell angebunden. Vor allem Mädchen mit Migrationshintergrund sind selten Mitglied in Vereinen, speziell Sportvereinen.
  • In der Studie wurden drei Freizeittypen diagnostiziert: die normalen Freizeitler, die vielseitigen Kinder und die Medienkonsumenten. Die vielseitigen Kinder stammen überwiegend aus den mittleren und oberen Herkunftsschichten, und sie sind meist weiblich. Sie beschäftigen sich mit Musik, Büchern, kreativen Tätigkeiten, aber auch mit Freunden und Sport. Die Medienkonsumen-ten treffen sich auch gerne mit Freunden und haben Interesse an Sport und Spielzeug, die meiste Zeit aber verbringen sie vor dem Fernseher. Hierzu gehören überdurchschnittlich viele Kinder aus den unteren Herkunfts-schichten und viele Jungen.
  • Aus der Zufriedenheit der Kinder mit Beziehungsqualitäten in der Familie, der Schule und dem Freundeskreis wurde ein „allgemeines Wohlbefinden“ der Kinder ermittelt. Kinder, die sich unwohl fühlen, stammen häufig aus der unteren Herkunftsschicht: 31% von ihnen kennzeichnet ein fehlen-des Wohlbefinden gegenüber 15% aus der unteren Mittelschicht und 6% aus der Oberschicht.

Bedeutung verlässlicher Erwachsener

Beziehungsqualitäten stehen wiederum im Mittelpunkt der Befunde der Bepanthen Kinderarmutstudie (Andresen/Fegter 2009). Bei der Frage nach Vorstellungen eines guten Kinderlebens hoben die Kinder besonders die Bedeutung guter familialer Beziehungen und Erfahrungen von Fürsorge hervor. Sie be-schränkten dieses Bedürfnis jedoch nicht auf Eltern und Familienmitglieder. Vielmehr bezogen sie es auch auf die Institution und die pädagogischen Mitarbeiter/innen der ARCHE. Neben den Freizeitange-boten stellten sie besonders die Präsenz fürsorglicher Erwachsener und die Bereitstellung verbindlicher Strukturen positiv heraus. Das Bedürfnis der Kinder nach guten Beziehungen beschränkt sich insofern nicht auf ihre Familien, sondern spricht die Dimension öffentlicher Verantwortung für gelingende Prozes-se des Aufwachsens an. Gerade Kinder, deren Familien belastende Lebensumstände bewältigen müssen, sind auf die besondere Unterstützung in Schule und außerschulischen Einrichtungen angewiesen.

Für die Schule schlechter gerüstet

Beide Studien zeigen, dass sich die soziale Herkunft auf Erfahrungswelten und Gestaltungsräume von Kindern auswirkt. Die Möglichkeiten zur Ausbildung vielfältiger Interessen und eines guten Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten sind für Kinder unter Armutsbedingungen häufig eingeschränkt. Hierzu tragen ihre schlechtere Einbindung in Vereine und Freundeskreise bei, ihr geringeres Wohlbefinden in Familie und Schule sowie die Belastungen, die ihre Familien bewältigen müssen. Diese Kinder haben es schwe-rer, eine zuversichtliche Haltung zu entwickeln und Herausforderungen optimistisch zu begegnen. Offensichtlich wird dies in dem geringeren Selbstvertrauen in die eigenen schulischen Fähigkeiten und den niedrigen Bildungsaspirationen bereits im Kindesalter. Dies wirkt sich auf schulisches Lernen aus. Auch die Bedeutung der Freizeitwelten darf nicht unterschätzt werden. Informelle Bildung hat große Bedeutung für die Entwicklung individueller Potenziale und die Aneignung kulturellen Kapitals, das über Zugänge und Teilhabe an Gesellschaft entscheidet. Was Kinder in ihrer Freizeit machen, womit sie ihre Zeit verbringen und welche Fähigkeiten sie dabei entwickeln, ist alles andere als irrelevant mit Blick auf schulische Bildungschancen. Diejenigen Kinder beispielweise, die zu den vielseitigen oder den normalen Freizeitlern gehören, erwerben in ihrer Freizeit Bildungsressourcen, die sie besonders gut im schulischen Kontext einsetzen können. Schulische Anforderungen und non-formelle Bildungsangebote ergänzen sich hier und verbessern die Bildungschancen dieser Kinder zusätzlich. Bei den Medienkonsumenten dagegen, die viel Zeit vor dem Fernseher verbringen, übersetzen sich diese Tätigkeiten weniger gut in schulische Potenziale. Gerade diese Kinder erfahren damit eine weitere Verschlechterung ihrer Bildungschancen.

Kinderarmut ist nicht pädagogisch zu lösen

Angesicht der deutlichen Benachteiligung armer Kinder in Prozessen des Aufwachsens und der Bedeu-tung für schulisches Lernen stellt sich die Frage, wie auf diese Ungleichheit reagiert werden kann. Um die Bildungschancen dieser Kinder zu erhöhen, sind in erster Linie arbeitsmarktpolitische Ansätze wichtig, die die Situation der Familien insgesamt verbessern. Es braucht eine kontinuierliche Erwerbsbeteiligung der Eltern und bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten, um die besonders prekäre Situation alleinerziehender Eltern zu verbessern.

Für sozialen Ausgleich in Bildung investieren!

Gleichzeitig steht die Bildungspolitik vor der Aufgabe, Voraussetzungen zu schaffen, damit Schule soziale Benachteiligungen ausgleicht statt sie wie bisher zu verstärken. Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status brauchen Schule als einen Ort, an dem sie gefördert werden. Die Resilenz-forschung macht in diesem Zusammenhang auf Schutzfaktoren aufmerksam, die dazu beitragen, dass Kinder belastende Lebensverhältnisse besser bewältigen und ihre Potenziale entfalten. Zu den indivi-duellen Schutzfaktoren gehören u. a. eine aktive Problembewältigung, das Ausmaß des Selbstver-trauens, eine enge emotionale Bindung zu mindestens einer Bezugsperson und soziale Aktivitäten, die Verantwortung und Kreativität erfordern. Zu den außerfamilialen Schutzfaktoren zählen u. a. ein gutes Freundschaftssystem, Mitgliedschaft in Vereinen und Organisationen sowie positive Erfahrungen und Integration in der Schule (vgl. Holz et al., 2005 S. 193-195). Wie oben aufgezeigt, sind viele dieser Schutzfaktoren gerade bei Kindern aus den unteren Herkunftsschichten nicht oder eingeschränkt vor-handen. Diese Kinder brauchen daher eine Schule, die sie individuell fördert, in der sie soziale Netzwerke knüpfen können und verlässliche und unterstützende Erwachsene erleben. Um dieser öffentlichen Ver-antwortung gerecht zu werden, braucht es eine deutliche Verbesserung der finanziellen, zeitlichen und strukturellen Möglichkeiten an den Schulen, z. B. kleinere Klassen. Nur dann haben Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit, Schüler und Schülerinnen individuell zu fördern. Lehrerinnen und Lehrer, die an den Grenzen ihrer Belastbarkeit unterrichten, können solche Aufgaben nicht leisten.

Literatur

Andresen, S./Fegter, S. (2009): Spielräume sozial benachteiligter Kinder. Bepanthen Kinderarmutsstudie. Eine ethnographische Studie zu Kinderarmut in Hamburg und Berlin. Vorläufiger Abschlussbericht. Bielefeld

Deutsches Jugendinstitut (2009): Kinderarmut in Deutschland. Empirische Befunde, kinderpolitische Akteure und gesellschaftspolitische Handlungsstrategien. Expertise im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts von Maksim Hübenthal

Holz, G./Richter, A./Wüstendörfer, W./Giering, D. (2005): Zukunftschancen von Kindern. Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit. Bonn/Berlin

World Vision Deutschland (2007): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt a. M.

 

Susann Fegter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld

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