Momentan ist richtig ...Mut und Zeit, die innere Armut zu verlassen„… momentan ist gut, nichts ist wirklich wichtig, nach der Ebbe kommt die Flut… und es ist, es ist ok, alles auf dem Weg“, singt Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Mensch“. Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben; es ist zu viel Zeit, die wir nicht nützen . von
Roland Feichter
Mir gefällt diese Grundhaltung, die Wichtigkeit des Momentes, das Leben und Sein im Hier und Jetzt. Die Gegenwart als aktuelle Situation ist wichtig. Sie wird zwar fortlaufend eingerahmt durch das Gestern, das hineinwirkt und durch das Morgen, das seine Schatten vorauswirft. Präsenz, Zuwendung, Gelassenheit und Zuversicht lebe ich aber in der Gegenwart. Ja, ich neige zu sagen: So wie es ist, ist es – und das darf sein – und das, was ist, ist (irgendwie) auch gut – und darauf gilt es zu bauen. Je nachdem, in welche Familie und in welches Umfeld wir hineingeboren wurden, sind die Voraussetzun-gen und Erfahrungen sehr unterschiedlich. Mehr oder weniger stark geprägt davon, entwickeln wir im Leben unsere Art und Weise zu agieren und zu re-agieren.Sechs starke Pole Sie prägen unsere Beziehungswelten, unser Elternsein, aber auch unser berufliches Sein. Stark beeinflusst werden diese Pole in den ersten drei Lebensjahren, jedoch reicht ihr Veränderungs-potential und Einfluss bis zum Lebensende. Angelehnt an das Synchronising-Kugelmodell von Markus Jensch, erläutere ich im Folgenden diese sechs grundlegenden Aspekte.
Nähe und Distanz Das sind zwei Pole, die in der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr besonders stark geprägt werden, die in einer notwendigen Grundspannung stehen. Ein Baby oder Kleinkind sucht und braucht Nähe, Geborgenheit, Sicherheit – und ist dabei entscheidend auf sein Umfeld angewiesen. Menschenkenntnis und Erfahrung lehren, dass jedes Kind, jeder Mensch die je eigene Nähe, Geborgen-heit, Wärme und Zuwendung braucht. Und so wie wir Menschen eben sind, kann das, was grad eben noch passend war, für den nächsten Augenblick unpassend sein. Es wird mehr davon oder weniger oder anderes benötigt. Den entscheidenden Unterschied zu erkennen ist aber nicht immer so einfach. Das Gespür dafür ist mitunter wenig ausgeprägt (sowohl für sich selbst als auch für die Anderen). Die „Zone des scheinbar Passenden“, die Toleranz des Annehmens ist oft breit. Welche Nähe – mit welchen Menschen – brauche ich, lebe ich, strebe ich an? Und ebenso wichtig: Welchen Abstand und welche gesunde Distanz brauche und finde ich, die gut tut bzw. für mich passend ist. „Für mich passend“ kann natürlich bedeuten, dass der/die Andere damit nicht einverstanden ist – und das darf so sein, muss oft sogar so sein.
Selbstständigkeit und Kooperation Die beiden Pole bewegen unser Leben, sie wollen entwickelt sein. Selbstständigkeit ist keine Erbanlage, die man hat oder nicht. Sie entsteht, wächst, übt sich… Im Alter von etwa 2 Jahren wollen Kinder vieles selber tun – da braucht es eine gute Portion Geduld, Gelassenheit oder auch Zeit, um dem Kind dieses Lernfeld zuzugestehen. Wenn wir hier zu oft abwehren, ungeduldig reagieren oder vertrösten (du bist zu klein, zu ungeschickt, zu langsam, du kannst das noch nicht…) entziehen wir dem Kind wichtige Entwicklungsgelegenheiten. Selbstständigkeit ist ein kostbares, erstrebenswertes Gut, bedeutet jedoch nicht, dass ich alles selber tun muss bzw. alles tun darf, was ich will. Selbstständigkeit bedeutet auch nicht, es alleine zu machen. „Ich habe es selber geschafft, aber nicht allein“, sagte etwa die 2jährige Hanna treffend, als sie (in Begleitung des Papi) auf dem Kletterturm oben angelangt war. Kleinkinder kooperieren sehr viel – leider wird das allzu oft nicht genügend wahrgenommen und anerkannt. Gesehen wird jedoch, wenn das Kind, der jugendliche Mensch da oder dort nicht kooperiert, nicht wie gewünscht reagiert bzw. nicht mitspielt. Jesper Juul, der bekannte Familientherapeut spricht häufig vom Gegensatzpaar Integrität – Zusammen-arbeit. Ähnliches wird dabei angesprochen: die Herausforderung gut bei sich, mit sich und in sich zu sein, den eigenen Kern und die eigene Melodie zu achten (die persönliche Verantwortung übernehmen) und die Bereitschaft, auf andere einzugehen, zuzugehen. Kooperieren meint auch, das Eigene etwas zurück-zustellen, zusammenzuwirken, die soziale Verantwortung zu erkennen. Unsere Gesellschaft und Systeme unterstützen und fördern/fordern zumeist die soziale Verantwortung, die der/die Einzelne gefälligst übernehmen soll!
Durchsetzung – Kompromiss Es gibt Momente, Situationen und Aufgaben, persönliche Themen und Beziehungs(heraus)forderungen, in welchen es wesentlich ist, sich durchzusetzen, in denen es gilt, sich entschieden für die eigenen Vorstellungen stark zu machen, wo es nicht viel Spielraum gibt! Und dann gibt es jene Zeiten, wo es gut ist, die eigenen Vorstellungen und Erwartungen etwas zurückzunehmen und gute gemeinsame Lösungen zu finden. Beide Fähigkeiten wollen entwickelt werden, sind uns nicht automatisch in die Wiege gelegt. Für alle drei angeführten Achsen gilt: Wir haben zu jeweils einem der beiden Poole hin eine stärkere Neigung, eine Art Grundausrichtung. Diese „Angewohnheit“ oder auch dieser Erstimpuls hatte in unse-rem Leben sicherlich seine wichtige und richtige Bedeutung und seinen Sinn. Es ist aber spannend und häufig auch entspannend (weil ich den Lebensthemen passender entgegentrete), jeden Pol zu erfor-schen, die jeweiligen Kostbarkeiten und Einsatzmöglichkeiten zu begreifen und gekonnt zu bewandern und im rechten Moment zu leben.
Zeit-Armut Es braucht Zeit, die Vielfalt und Buntheit in uns selbst zu erkennen und sich dranzuwagen. Wenn ich das tue, was ich bisher immer getan habe, bekomme ich sehr wahrscheinlich wiederum das, was ich schon habe und bislang bekommen habe. Angst und Einseitigkeit (im Denken und Handeln) machen eng und führen zu Armut. Die Bereitschaft und der Mut, auch neue oder ungeübte Wege zu gehen, bringen neue Töne und Begegnungsqualitäten, neue Facetten und Varianten in die Gefühlswelten! Auch die Bewer-tungen und Ergebnisse verändern sich. Für die Überprüfung hilft in vielen Fällen die Beobachtung: Worauf richte ich meinen (inneren) Blick? Bemerke ich vorwiegend das, was fehlt – oder sehe ich all das, was da ist? Es wartet so manches darauf, wirklich/verwirklicht zu werden. Es braucht Mut, das anzunehmen, was gerade ist. Doch es braucht genauso Mut und Zeit, die (innere) Armut zu verlassen und auf Menschen und ihre Bedürfnisse zuzugehen. Momentan ist richtig, momentan ist gut… Oder wenn wir Kinder oder die Natur als beiSPIELgebend sehen: „Es tut sich viel – beim NichtsTun“.
|
Diskussion
|
---|