Arm und reichVerdienst oder Zufall?Mehr oder weniger Armut hängt letztlich von zwei Bedingungen ab: zum einen von der gesamtgesell-schaftlichen Wertschöpfung, zum anderen von ihrer Verteilung. Die Wertschöpfung wiederum hängt von der Produktivität, die Verteilung vom politischen Willen und den jeweiligen Machtverhältnissen ab. Während das Produktivitätsniveau im hohen Maße von Zufällen bestimmt ist, bietet die Regelung der Verteilung Spielraum für Verdienst. von
Franz Mathis
Eine Gesellschaft ist umso reicher, je mehr Werte sie pro Kopf ihrer Mitglieder schafft. So selbstverständ-lich dieser Zusammenhang erscheinen mag, so häufig wird er ignoriert – etwa dann, wenn der Reichtum der Ersten und die Armut der Dritten Welt mit der Ausbeutung der einen durch die andere zu erklären versucht wird. Eine derartige Erklärung würde den Tatbestand des Raubes zur Normalsituation erheben, doch zeigt die historische Erfahrung, dass Raub die Ausnahme und nicht die Regel war. Die jeweilige, individuelle wie gesamtgesellschaftliche Produktivität hängt neben dem Wunsch der Men-schen, ihren Lebensstandard zu verbessern, von einer Reihe von Zufällen ab. Ein erster Zufall ist in den natürlichen Bedingungen zu sehen. Sie beeinflussen nicht nur die Produktion von Nahrungsmitteln, son-dern auch die Gewinnung von zur Weiterverarbeitung geeigneten Rohstoffen. Allerdings erlauben sie vor-erst lediglich die Versorgung der Menschen mit den Grundbedürfnissen der Nahrung, der Kleidung und des Wohnens. Diese Grundversorgung reicht kaum über das Existenzminimum hinaus und erweist sich aufgrund ihrer Abhängigkeit von klimatischen Bedingungen auch als ausgesprochen prekär. Für ein über die Deckung der Grundbedürfnisse hinausgehendes Leben bedarf es einer Steigerung der Produktivität, die es den Menschen erlaubt, mehr und qualitativ bessere Güter herzustellen. Die historische Erfahrung zeigt, dass dafür der Wunsch nach einem besseren Leben nicht genügte. Es brauchte zusätzliche positive Anreize.Märkte und Produktivität Sie ergaben sich aus der Entwicklung von Märkten, die als Folge wachsender Bevölkerung und zuneh-mender Bevölkerungsdichte entstanden. Erst bei einer ausreichenden Zahl potenzieller Abnehmer konnte es sich lohnen, sich auf die Produktion bestimmter Güter zu spezialisieren. Da die eigenen Einkommen jetzt vom Verkauf dieser Güter abhingen, waren die Menschen in einer nunmehr arbeits-teiligen Wirtschaft – sie entwickelte sich vor allem in Städten und im Umfeld städtischer Siedlungen – bemüht, möglichst viele und möglichst gute Güter zu erzeugen. Die größere Gütermenge erhöhte aber nicht nur die Einkünfte der Produzenten, sondern führte nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage tendenziell zu einer Verbilligung der Produkte, was sie für die Kon-sumenten erschwinglicher machte. Die der Entstehung städtischer Märkte zugrunde liegende Bevölke-rungsdichte war insofern zufällig, als sich die dafür verantwortliche Zahl der Geburten- und Todesfälle aus keiner gesamtgesellschaftlichen Planung, sondern aus den Entscheidungen und der Gesundheit der einzelnen Menschen ergab.Großstädte und Industrialisierung Nachdem Arbeitsteilung und Spezialisierung in städtischen Gesellschaften bereits eine erste Produktivi-tätssteigerung zur Folge hatten, wurde der sehr viel größere Sprung auf das heutige Wohlstandsniveau durch eine neuerliche, noch revolutionärere Umgestaltung der Produktionsweise möglich. Die industriel-le, auf Maschinen und lebloser Energie statt auf Handarbeit und menschlich-tierischer Energie beruhende Produktion hatte eine Produktivitätssteigerung zur Folge, die das frühere Niveau um ein Vielfaches über-traf. Sie liegt dem in den entwickelten Ländern inzwischen erreichten, individuellen wie gesamtgesell-schaftlichen Wohlstand zugrunde. Und abermals war es der Zufall einer noch stärkeren Bevölkerungsverdichtung, die im 18./19. Jahrhun-dert zunächst in West- und Mitteleuropa, dann auch in den USA, Kanada und Japan sowie seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in anderen Teilen der Welt zur Entstehung von Großstädten mit bis zu einer und schließlich mehreren Millionen Einwohnern führte. Erst ihre geballte Massennachfrage ließ die Inves-titionen in eine in Fabriken betriebene, maschinelle Massenproduktion lohnend erscheinen. Und dasselbe gilt etwa auch für die Landwirtschaft und den Verkehr, wo dank effizienterer Maschinen und Transport-mittel in derselben Zeit weit mehr Güter geschaffen und befördert wurden als je zuvor. Wie schon in den früheren Städten – jetzt allerdings in einem viel größeren Ausmaß – hatte die höhere Produktivität eine Steigerung der Einkommen für die Produzenten und eine Verbilligung der Preise für die Konsumenten zur Folge. Statt von einer Mehrheit von armen sind die entwickelten Länder inzwischen von einer Mehrheit wohlhabender oder zumindest deutlich besser gestellter Menschen gekennzeichnet. Ihre höhere Kaufkraft führte ihrerseits zu einer zusätzlichen Ausweitung der Nachfrage und weiteren Anreizen zur Produktivitätssteigerung – in der Herstellung von Gütern ebenso wie in zunehmendem Maße in der Bereitstellung von Dienstleistungen. Dass eine derartige Produktivitätssteigerung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht durch zunehmende Bildung erleichtert, ja vielfach erst ermöglicht wird, liegt auf der Hand.Verteilung der Wertschöpfung Neben der Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung hingen Armut und Reichtum auf allen Stufen der historischen Entwicklung in hohem Maße von ihrer Verteilung ab. Schon in den agrarischen Gesellschaften gelang es einer schmalen Elite, einen größeren Teil der gesellschaftlichen Wertschöpfung für sich abzuzweigen. Das Phänomen der ungleichen Verteilung zieht sich auch in der Folge wie ein roter Faden durch die Geschichte. Welches Ausmaß die innergesellschaftliche Verteilung von Arm und Reich annahm, hing von der politi-schen Macht und dem Wollen der einzelnen Bevölkerungsgruppen ab. In der Regel kam der gegebenen oder errungenen Macht größere Bedeutung zu als dem guten Willen. Obwohl es durchaus wohlwollende Eliten und Regierungen gab, die sich für eine weniger ungleiche Verteilung einsetzten – was durchaus als ihr Verdienst gelten kann – war dafür insbesondere der von Seiten der ärmeren Gruppen ausgeübte Druck verantwortlich. Unmittelbar war dies bei den gewerkschaftlichen Organisationen der Fall, die vor allem mit Hilfe von Streiks auf die Arbeitgeber Druck ausübten, mittelbar bei den modernen Massenparteien, die dank ihrer Mehrheiten in den Parlamenten Sozialgesetze veranlassten. Beides hatte eine weniger ungleiche Verteilung der Wertschöpfung zur Folge. Da Parlamente aber bis heute auf nationaler Ebene agieren, sind die Gründe für die vielfach anzutreffen-de, ungleiche Verteilung von Arm und Reich in den einzelnen Ländern selbst zu suchen. Die Gründe für die weltweit unterschiedliche Wertschöpfung hingegen sind in der zufälligen Existenz und Größe dafür not-wendiger Märkte zu sehen. Erst wenn solche Märkte vorhanden sind, können die Menschen auf die von ihnen ausgehenden Chancen und Anreize reagieren. Die weltweit zu beobachtende Landflucht in die großen Metropolen ist eine Folge ihrer Attraktion. Es wäre das Verdienst von Regierungen, den Zugang zu den Märkten möglichst vielen Menschen zu ermöglichen. Gerade dazu könnte auch eine breitere und höhere Bildung beitragen.
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