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Nun
fragt sich, wer kein besonderes Verhältnis zur Sprache hat,
wozu es noch eine weitere Grammatik braucht. Ich hab ein Dutzend
davon im Regal stehen, aber keine hat mich so fasziniert wie das
neue dreibändige Werk von Wolfgang Boettcher mit dem Titel
„Grammatik verstehen". Die andern brauche ich zum Nachschlagen,
diese lese ich: abschnittweise, in Happen, aus Neugier. Und bei
der Lektüre merkt man erst, warum Sprachbücher so langweilig
und warum vor allem der Grammatikunterricht so nervtötend
sein kann und den Kindern sowohl die Neugier auf Sprache als auch
die Lust an Sprache austreibt: hier wird die Systematik vorgegeben,
anstatt sie uns entdecken zu lassen.
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Etwas
finden oder etwas verstehen ist immer mit einem Glücksgefühl
verbunden, das gilt für die Erforschung der Sprache genauso
wie für die Mineraliensuche. Wer Wolfgang Boettchers Grammatik
liest, begibt sich auf eine spannende Entdeckungsreise durch drei
Kontinente der deutschen Sprache: das Wort, den einfachen Satz,
den komplexen Satz. Hier wird die Struktur der Sprache nicht einfach
als eine Anhäufung von Regeln und Normen betrachtet, die
uns sagen sollen, was wir dürfen und was nicht, sondern sie
wird gezeigt als ein enormes Potenzial im Humboldtschen Sinne,
das keine noch so umfangreiche Normbeschreibung auch nur annähernd
darstellen könnte. Sprachlehrer/innen, denen die Faszination
an diesem wunderbaren Gebilde abhanden zu kommen droht, können
sich hier neue Impulse holen – oder zu Mathematik und Geografie
wechseln.
Gängige
Schulgrammatiken sind gespickt mit konstruierten Beispielen, die
im alltäglichen Sprachgebrauch gar nicht vorkommen. Boettcher
bringt „echte“ Beispiele. Ich könnte mir keinen besseren
Anlass vorstellen, über trennbare und nicht trennbare Verben
und ihre Betonung zu sprechen, als das folgende Beispiel von Robert
Gernhardt: „ Ein Männlein steht im Walde / ganz still
und stumm. / Wenn ich es nicht umfahre, / dann fahre ich es um.
Oder anhand der Werbung für das König Pilsener
über Genus-Besonderheiten zu sprechen: Das König
der Biere . Die immer wieder eingebauten „grammatischen Leckerbissen",
wie der Autor sie nennt, regen zum Nachdenken über das Hintergründige
in der Sprache an, so z. B. dieser Text von Liselotte Rauner:
Mein Arbeitsplatz / ist nicht mein Arbeitsplatz / denn mein
/ ist ein besitzanzeigendes Fürwort .
Auf
der Homepage des Niemeyer Verlages werden zusätzliche Übungen
mit Lösung angeboten: www.niemeyer.de/boettchergrammatik
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