Männliche Sozialisation

 

Frühe Bewältigungsfallen und Zuspitzung im Jugend- und frühen Erwachsenenalter

Mit dem Begriff Sozialisation bezeichnet man in den Sozialwissenschaften den Prozess des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit der naturhaften wie mit der sozialen Umwelt und darin mit sich selbst. Sozialisationsprozesse sind in diesem Verständnis in unserer Kultur insofern geschlechtsdifferent, als unterschiedliche biophysische Entwicklungstatsachen bei Mädchen und Jungen verschieden gedeutet und definiert und von den Kindern und Jugendlichen auch unterschiedlich empfunden werden.

von Lothar Böhnisch

 

Geschlecht ist vor diesem mehrdimensionalen Hintergrund sowohl eine soziale Konstruktion, wie eine biophysische Entwicklungskonstella-tion und genauso eine leib-seelische Empfin-dung. Alle drei Dimensionen gehen ineinander über.

Ich werde im Folgenden den Prozess männ-licher Sozialisation, das Aufwachsen von Jungen von der Seite der Befindlichkeit der Kinder und Jugendlichen selbst thematisieren. Ich gehe dabei aus von geschlechtstypischen Leib-/Körperkonflikten, die alle Jungen in unserer Kultur durchlaufen und bewältigen müssen und versuche von da aus das Sozialisationsgeschehen darzustellen.

Gesucht: Männliche Alltagsidentifikation

Solche Leib- und Körperkonflikte, die in ihrer kulturellen Rahmung und sozialen Deutung ihre Wirklichkeit erhalten, lassen sich bei Jungen vor allem im Alter zwischen 3 und 6 Jahren und in der frühen Pubertät ausmachen. Das Aufwachsen von Jungen in unserer Gesellschaft ist durch die Suche nach männlicher Geschlechteridentität im Bindungs-/Ablösungsverhältnis zur Mutter und in dem – mit ihm konkurrierenden und zugleich suchenden – Verlangen nach dem ›männlichen‹ Vater (oder einer vergleichbaren männlichen Bezugsperson) bestimmt.

Dies unterscheidet sie in der frühen kindlichen Phase von den Mädchen, die sich auf der Suche nach Geschlechtsidentität nicht von der Mutter lösen müssen und bei denen der Geschlechtskonflikt erst in der Pubertät in der Dramatik der Ablösung von der Mutter Gestalt gewinnt. Für den Jungen aber beginnt der Ablösungsprozess von der Mutter schon im frühkindlichen Alter von 3 bis 5 Jahren zu einer Zeit, in der sich das autobiografische Gedächtnis entwickelt hat und der Junge erkennen kann, dass er körperlich nicht der Mutter, sondern dem Vater oder anderen männlichen Bezugspersonen gleicht. Für den Jungen ist es aber meist schwer über den Vater – oder eine ähnlich nahe männliche Bezugsperson – die Alltagsidentifikation zu bekommen, die er braucht, um in ein ganzheitliches – Stärken und Schwächen gleichermaßen verkör-perndes – Mannsein hineinwachsen zu können. Die Väter sind ja meist unter der Woche außer Haus. Die alltägliche Beziehungsarbeit obliegt meist der Mutter, die sich dem Jungen in ihren Stärken und Schwächen zeigt. Die Schwächen des Vaters und seine alltäglichen Nöte des Mannseins, des Ausgesetzt-seins und der Verletzungen im Beruf werden dagegen für den Jungen kaum sichtbar. Das heißt nicht, dass die Väter nicht engagiert sind (vgl. Fthenakis 1999). Aber die meisten sind nur am Wochenende verfügbar und dann machen sie mit den Kindern „etwas los“; der Vater bringt die Events. So wird auch in unseren Vorstudien zur repräsentativen Südtiroler Männerstudie (2010/11) deutlich, dass der Großteil der Väter zeitlich enorm an die Arbeit gebunden ist und dass sie es oft bedauern, dass sie z. B. keine längere Elternzeit nehmen können. So erhält der Junge oft ein einseitiges Vaterbild, das durch die ›starken‹ Männerbilder, die er mit zunehmendem Alter über die Medien wahrnimmt, noch verfestigt wird. Dies führt bei ihm zwangsläufig zur Idolisierung des Mannseins und zur Abwertung des Gefühlsmäßigen, Schwachen, ›Weiblichen‹, da er ja die eigenen weiblichen Gefühlsanteile, die er seit der frühkindlichen Verschmelzung mit der Mutter in sich trägt, immer weniger ausleben kann.

Neuere Väterstudien zeigen zwar, dass sich eine höhere Beziehungs- und damit alltägliche Vorbildqualität entwickelt, wenn Väter zeitlich und emotional intensiver in der familialen Sphäre der Söhne auftauchen. Freilich hat sich dabei noch nicht viel Grundlegendes an der Struktur väterlicher Familienarbeit geändert. Dazu bräuchte es auch gesellschaftliche Vorgaben der Anerkennung und Förderung männlicher Haus-arbeit. Gerade die Feminisierung der Erwerbsarbeit lässt in diesem Zusammenhang ambivalente Folgen erwarten. Indem das Normalarbeitsverhältnis erodiert wird, prekäre Arbeitsverhältnisse auch die Männer stärker erreichen, werden sich viele erst an die traditionelle Erwerbsarbeit klammern, wenn die alterna-tiven Bereiche der Hausarbeit keine anerkannte Männerrolle versprechen.

Deshalb ist es schon in der Kindheit für den Jungen wichtig, eine Mutter zu erleben, die sowohl dem Vater als auch dem Jungen gegenüber anerkannte Selbstständigkeit über die Familie hinaus verkörpert und damit signalisiert, dass sie dem Jungen auch soziale Rollenbilder anbieten kann. Ist die Mutter dagegen eher abhängig und von daher mit schwachem Selbstwertgefühl ausgestattet, kann sich bei ihr die unbewusste Tendenz verstärken, den Sohn als männlich stark erleben zu wollen. Die Mutter bleibt also weiterhin eine zentrale Figur im Prozess der Entwicklung von Männlichkeit. Gleichzeitig hängt es aber vor allem auch vom Vater bzw. der vom Jungen gesuchten männlichen Bezugsperson ab, inwieweit er sich so gegenüber dem Jungen öffnen kann, dass dieser erfährt und spürt, dass zum Mannwerden nicht nur Inszenierung von Stärke, sondern auch Erleben und Durchleben von Schwächen gehören.

Bedeutsame gesellschaftliche Erfahrungen

Wie sich im Kindesalter das Mannwerden je unterschiedlich biografisch entwickelt, hängt aber nicht nur von der jeweiligen Mutter-Vater-Konstellation ab, sondern auch von den ersten gesellschaftlichen Erfahrungen, die Jungen in ihrer Umwelt machen. Diese Erweiterung ist wichtig, da es ja keineswegs an den Eltern allein liegt, in welches Geschlechterrollenverhalten Kinder hineinwachsen und manche Eltern sich wundern, warum ihre Kinder, trotz elterlicher Versuche einer geschlechtsemanzipativen Erziehung, traditionelle Geschlechterrollenstereotype übernehmen. Hier spielen die früh von den Kindern konsumier-ten Medien und deren Geschlechterbilder schon eine wichtige Rolle. Schließlich fällt ins Gewicht, dass die Jungen im Kindergarten und in der Grundschule kaum auf männliche Erzieher, weder Kindergärtner noch  Lehrer, treffen und somit auch wieder Vorbilder des Mannseins fehlen. Dies ist die Kehrseite des – hier nur bedingten – Vorteils, dass sie dort weibliche Zuwendung erfahren.

Bewältigungsfallen sind also für den Jungen früh aufgestellt. Zuspitzen kann sich dies in der Zeit der Vor-pubertät, also im Alter zwischen 9 und 12 Jahren, in der die Geschlechter in unserer Kultur in unterschied-liche Reifungsprozesse eintreten. Jungen kommen erst ein gutes Jahr später in die Pubertät als Mädchen. So machen viele von ihnen die Erfahrung, dass gleichaltrige, nun schon ›fraulich‹ erscheinende und sich entsprechend mental und körperlich gebende Mädchen sich von den ›grünen‹ gleichaltrigen Jungen ab-wenden und für ältere Jungen schwärmen. Dies kann bei den Jungen zu erheblichen Selbstwert- und Aner-kennungsstörungen, zu Hilflosigkeit führen, die sie dann oft sexistisch und pornografisch abspalten. Die erlittene Demütigung durch die Mädchen wird durch sexistische Inszenierungen kompensiert. Die Jungen-toiletten in den Schulen füllen sich mit sexistischen Sprüchen und pornografischen Graffitis. Inzwischen läuft dies über Handys. So kann – je nach bisherigen Bewältigungserfahrungen des Jungeseins – die Spannung von Idolisierung des Männlichen und Abwertung des Weiblichen wieder neu aufbrechen. Hier kommt es vor allem darauf an, dass die Jungen die Chance haben, vor allem im schulischen Raum, aber natürlich auch in der Kinder- und Jugendarbeit Beziehungen, Räume und Projekte angeboten zu bekom-men, in denen sie Anerkennung, Selbstwert und Wirksamkeit erlangen und dabei spüren können, dass ihr Selbstwert nicht nur am (zu dieser Zeit) dünnen Faden der maskulinen Bestätigung hängt.

Verhängnisvoller Kreisel Idolisierung - Abwertung

Im jugendlichen Pubertätsalter zwischen 13 und 16 Jahren, in dem die Gleichaltrigenkultur eine zentrale Rolle für die Identitätsformation und die soziale Orientierung spielt, fallen immer noch die männlich dominierten Cliquen auf, wenngleich auch Mädchen inzwischen schon ihre eigenen jugendkulturellen Gesellungsformen suchen. Man könnte formulieren, dass die Jungen in diesem Kontext der Gesellungsform der männlichen Clique zum ersten Mal richtig ›unter Männern‹ sind und sich nur an (gleichaltrigen) ›Männern‹ orientieren können. Allerdings kommen – je nach bisherigen biografischen Bewältigungs-erfahrungen und entsprechenden sozialen Chancen – Jungen zusammen, die sich selbst noch nicht ihres Mannwerdens sicher sind. Das in der männlichen Sozialisation immer noch schwelende Homosexualitäts-tabu und der Ethnozentrismus der Gruppe können dann den Kreisel von Idolisierung des Männlichen und Abwertung des Weiblichen neu aktivieren. Deshalb kommt gerade der Jungenarbeit in der Jugendarbeit hier die Aufgabe zu, männliche Vorbildfunktionen anzubieten, Projekte zu entwickeln, in denen Jungen vermeintliche Schwächen als Stärken erfahren und in erweitertem Geschlechterrollenhandeln experimen-tieren können. Denn im Jugendalter als ›zweiter Chance‹ der männlichen Sozialisation wird auch für Jungen die Stärke von Gefühlen wieder spürbar.

Das Fehlen regionaler Anerkennungskulturen

Schließlich kann das Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die Zeit des Junge-Erwachsenen-Seins, für viele junge Männer auch wieder zur Bewältigungsfalle werden, zum Neuaufbrechen der Spannung von Idolisierung des Männlichen und Abwertung des Weiblichen führen, indem die Übergänge in Arbeit und Beruf für viele riskant und unübersichtlich fragil geworden sind. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen und stehen unter dem Druck, sich inszenieren zu müssen, um Selbstwert und Anerkennung oder Aufmerksamkeit zu erlangen. Maskulinität wird dann nicht selten von jungen Männern – nicht nur aus sozial benachteiligten Milieus – als Bewältigungsressource aktiviert. Dies erweitert aber nicht, sondern verengt eher die biografische Übergangsperspektive. Gleichzeitig gibt es für diese Altersgruppe kaum regionale Anerkennungskulturen. Auch hier wäre es Aufgabe der Jugendpolitik, Orte anzubieten und Projekte zu entwickeln, in denen diese Altersgruppe junger Männer sichtbar werden und Anerkennung und Beteiligung erfahren kann.

Bibliographie

Böhnisch, Lothar. Männliche Sozialisation, Weinheim und München: Juventa 2004.

Ders.: Viele Männer sind im Mann. Bilder – Blicke – Horizonte. Ein soziologisches Lesebuch für Männer und Frauen, Maria Enzersdorf: Roesner 2006.

Fthenakis, Wassilios. Engagierte Vaterschaft. Die sanfte Revolution in der Familie, Opladen: Leske und Budrich 1999.

 

Lothar Böhnisch, Prof. em.

Technische Universität Dresden, lehrt Soziologie an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen

 

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