Einheimische und Zweiheimische

„Wir und das Fremde“ - Ein interkulturelles Projekt an der Gewerbeoberschule Meran

Im Laufe der Jahre hören wir als Lehrperson im Unterricht immer wieder von Schülern abfällige, verallgemeinernde Aussagen zu Einwanderern oder Klischee über „die Ausländer“, eine ganze Volksgruppe oder Nationalität. Gleichzeitig ist ein auffälliger Trend hin zu traditionellen „Tiroler Werten“ zu bemerken, allerdings selten hinterfragt oder oberflächlich gelebt. Manche Jugendliche zeigen dabei eine abgrenzende Tendenz und eine Neigung zu (rechts-)extremen Standpunkten.

von Ewald Kontschieder

Der Ausgangspunkt waren also einerseits existierende Klischeevorstellungen über Migranten wie auch die Un-kenntnis ihrer Situation und der Ursachen von Migration. Andererseits erfordert die vermehrte Zuwanderung eine Auseinandersetzung mit der Thematik. Zunehmend gibt es Schüler mit Migrationshintergrund.

Das Projekt sollte deshalb mit Fakten zur Einwanderung aus verschiedenen Blickwinkeln vertraut und die Situa-tion von Migranten erfahr- und nachvollziehbar machen, aber ebenso Gelegenheit bieten, Menschen und ihr Schicksal persönlich kennen zu lernen und mit ihnen aktiv in Austausch oder sogar in ihre Rolle zu treten.

Eingebunden waren in das Projekt der Meraner Gewerbeoberschule vier 4. und 5. Klassen, zu denen sich gele-gentlich weitere gesellten. Fächerübergreifend arbeiteten die Lehrpersonen aus Deutsch/Geschichte, Englisch, Rechtskunde, Religion und Italienisch mit. Indirekt unterstützten uns aber viele andere, da sie bereitwillig notwendige Stunden für den Blockunterricht zur Verfügung stellten.

Ziel: Interkulturelle Kompetenz

Ziel war neben anderen (z.B. Kommunikations- und Konfliktkompetenz) der Aufbau und die Stärkung der interkulturellen Kompetenz. Das Projekt sollte helfen, eine offenere, vorurteilsfreie Haltung zu entwickeln. Es sollte einen jungen Menschen dazu befähigen, kulturspezifische Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser wahrzunehmen, zu reflektieren und angemessen in der Begegnung zu interagieren. Ebenso sollten Klischees und Stereotypen erkannt und durchschaut werden. Die Problematik der Einwanderung sollte dabei realistisch eingeschätzt, sowohl Chancen als auch Mühen der Integration erfasst werden.

Uns ging es letztlich darum, Erfahrungen, Erkenntnisse, Begegnungen zu ermöglichen, die dazu führen sollten, dass die jungen Menschen die eigene Lebenswelt und Kultur bewusster wahrnehmen, sie als Teil einer sich verändernden multikulturellen Gesellschaft und Welt begreifen. Wenn am Ende bei vielen Schülern mehr Neugierde, Offenheit und Interesse entstanden war, sich auf Begegnungen mit anderen Menschen, Traditionen, Verhaltensweisen, Wertesystemen und Kulturen einzulassen, dann wäre in unseren Augen das Projekt gelungen.

Der Weg

Es gab vom November bis April verschiedene Treffen mit Expert/inn/en, Referent/inn/en und interkulturellen Mediator/inn/en, Diskussionen, Referate, eine Selbsterfahrung, interkulturelles Musizieren mit einem tunesischen und einem marokkanischen Musiker, begleitende Lektüre und Filme (s. Info-Kasten). Insgesamt haben 13 Referent/inn/en in unterschiedlicher Intensität und Kombination mit den Klassen gearbeitet. Es gab mehrere Hauptveranstaltungen, an denen alle Klassen (häufig zwei gemeinsam) teilnahmen, einige Veranstaltungen standen zur freien Wahl. Weitere Vertiefung, Diskussion und Klärung fand teilweise im Regelunterricht v. a. der Sprachfächer Platz.

Südtirol im Spiegel

Als Einstieg diente uns eine Art Spiegel: Sechs Südtiroler/innen, die im Ausland leben oder lebten, berichteten teils in Englisch von ihren Erfahrungen als Arbeitsmigranten und von ihrem Fremdsein in ihrer Wahlheimat. Namentlich besuchten uns Stefan Stoll (San Francisco/USA), Vera Frantz (London), Ulrich Ladurner (Hamburg/Krisengebiete v. a. Asien), Claudio Quaranta (Brüssel), und die beiden Ex-Gewerbeoberschüler Michael Pircher (Brasilien/Ruanda) und Stephan Pircher (Sambia).

Auftakt bildeten die Vorträge der beiden Letztgenannten, die von ihrer einjährigen Arbeit in Ruanda, Sambia und Brasilien bei humanitären Hilfsprojekten und mit Straßenkindern erzählten. Das war ein gelungener Einstieg auf Augenhöhe: Die beiden Referenten sprachen teilweise die Sprache ihrer Gastländer, zeigten ansprechende, berührende Bilder und waren doch beinah gleichaltrig und nahe an unserem Publikum.

Als Einführung hatte es im Vorfeld bereits soziale Aspekte mit (zu) vielen Fakten, Tabellen, Grafiken, Zahlen zum Stand der Einwanderung gegeben. Dieser Schwerpunkt ist zwar unbedingt notwendig, könnte aber dahingehend abgeändert werden, vor allem über die existierenden Vorurteile offen zu diskutieren, auch radikale (ohnehin häufig wenig hinterfragte) Meinungen zuzulassen, um dann sachlich zu informieren und zu hinterfragen, ohne den heiklen Themen auszuweichen (z.B. Wie viel Einwanderer verträgt unsere Gesellschaft?). Die rechtliche Seite erläuterte uns während eines Gerichtsbesuches v. a. anhand konkreter Fälle aus dem Gerichtsalltag der Richter Stefan Tappeiner.

Begegnung mit Einwanderern

Der Höhepunkt des Projekts war nach den Einführungen (soziale und rechtliche Aspekte, Treffen mit Südtiroler Auswanderern)die Begegnung mit fünf Einwanderern aus Marokko, Tunesien, Pakistan, Brasilien und Bosnien. Den Schwerpunkt setzten dabei die Referenten in Absprache mit der Arbeitsgruppe selbst. Manche bevorzugten nur mit einer Klasse zu arbeiten. Eine Referentin stellte mit vielen Bildern v. a. ihr Heimatland dar, um davon ausgehend die Unterschiede zu ihrem Gastland zu illustrieren. Andere bauten Spielerisches oder Rituelles ein, um kulturelle Unterschiede und Traditionen handlungsorientiert zu demonstrieren, z.B. Verkostung typischer Speisen. Im Mittelpunkt stand immer der Austausch, die Erzählung des eigenen Schicksals. In diese Richtung gingen auch viele Fragen der Schüler: Wer bist du? Woher kommst du? Wie sieht es bei dir zuhause aus? Wieso bist du da? Wie erlebst du Südtirol?

In die Rolle von Einwanderern schlüpfen

Ursprünglich wäre geplant gewesen, den handlungsorientierten Teil auf alle Klassen auszudehnen, was aber  zeitlich und organisatorisch dann doch etwas schwierig wurde. Deshalb habe ich das Musikprojekt mit meinen beiden Abschlussklassen durchgeführt. Und nur mit einer Klasse habe ich schließlich Freiwillige auf die Straße geschickt, um als obdach- und mittellose „Einwanderer“ im Stadtzentrum von Meran zu betteln (s. Kasten).

 

„Augen öffnend“

Im Wesentlichen wurden die gesetzten Ziele erreicht (z.B. differenziertere Wahrnehmung), wie die Auswertung des Projektes bei Schülern und beteiligten Lehrpersonen gezeigt hat. Bei ihnen gab es eine großteils positive Resonanz mit vielen Einzelmeldungen, aber auch kritischen Anregungen und Bemerkungen.

Kurz zusammengefasst kann man sagen, dass alles, was ganzheitlich, handlungsorientiert und interkulturell angelegt war, gut bis sehr gut angenommen wurde. Das zu sehr rationale Vermitteln über Vorträge (z.B. Zahlen, Statistiken, Informationen) schien weniger interessant, wenn doch auch in gewissem Maße notwendig.

 Einige Schüleraussagen aus der schriftlichen Evaluation:

  • Vorurteile gegenüber Ausländern sind meist ungerecht.
  • Anderes Bild von Einwanderern. Verstehe, wieso so viele in Südtirol einwandern.
  • Verständnis dafür, warum Leute hierher kommen, wie sehr der Reichtum des Landes auffällt.
  • Erfahrung war sehr "Augen öffnend".
  • Früher hatte ich Vorurteile gegenüber Ausländern, nach diesen Begegnungen versuche ich, ein anderes Bild von ihnen zu haben.
  • Die "Ausländer" sind sehr fleißig und auch sehr bemüht, Leute aus anderen Ländern in Südtirol zu integrieren. Durch die Gespräche bekommt man ein ganz anderes Bild von ihnen, vollkommen unterschiedlich zum Medienbild.
  • Denke oft an die Referenten, wenn andere Menschen mit Vorurteilen kommen.
  • Wie schwer es ist, Heimat hinter sich zu lassen und in neues Land zu gehen.
  • Situation von Ausländern in Südtirol, wie es um Straftaten bei Immigranten steht; warum es wichtig ist, offen für fremde Menschen zu sein. Dass man über Musik und Sport gut einen Bezug zu Fremden erhält.

 

Es waren erste Schritte hin zum Aufbrechen von Vorurteilen, das Öffnen von neuen Zugängen und Horizonten, die Erziehung zur Toleranz, den Perspektivenwechsel. Solche oder ähnliche Schwerpunkte und Projekte sind für Schulen wünschenswert und notwendig. Das ist ebenso die Ansicht der meisten Schüler. Aus der Sicht der Arbeitsgruppe ist es ähnlich, es bleibt allerdings zu bedenken, dass der Arbeitsaufwand erheblich ist. Das Projekt ist allerdings auch in kleinerer Dimension vorstellbar. Wir werden vermutlich um eine solche Arbeit nicht herum kommen. Besser wir beginnen sofort damit!

Passende Spiel- und/oder Dokumentarfilme können das Angebot ergänzen, z.B. das sehr interessante, teils dokumentarische Flüchtlingsdrama „In this World“ von Michael Winterbottom über zwei afghanische Cousins, Jamal und Enayat, die aufbrechen, um in London ihr Glück zu suchen. Ihr Weg über die Türkei und Italien nach Westeuropa gerät zu einer monatelangen Odyssee.

Man sollte unbedingt auch das interkulturelle Angebote in der Nähe nutzen (Feste, Theateraufführungen, Ausstellungen, Beteiligung an humanitären Projekten, Begegnungsmöglichkeiten mit Einwanderern, Diskussionsrunden).


Aufbau und Inhalte des interkulturellen Projekts

  1. Einführung: Projektvorstellung, Vorwissen und erste Diskussion der Wahrnehmung von Migranten, Ausländer-Bilder (unterschiedliche Methoden möglich, auch spielerisch).
  2. Einführungsblock mit Experten – Vorträge, Gespräch und Diskussion mit Lehrausgang

    Soziale Aspekte, aktuelle Entwicklungen und/oder Klischees zu Ausländern (Expertin Nadja Schuster)

    Besuch des Bezirksgerichts, Einführung in rechtliche Aspekte zum Thema Ausländer (Aufenthaltsrecht, Verstöße etc.)

  3. Annäherungen an das Fremdsein
    Begegnung mit Südtirolern, die im Ausland leben (Erfahrung: Auch Südtiroler werden zu Emigranten):

    Geschichtliche Aspekte: Tiroler wandern aus (religiös Verfolgte, Schwabenkinder, Arbeitsemigration, Option etc.)
    Emotional, psychischer Aspekt „Fremd sein“ (mit Psychologen oder Sozialarbeiter – am besten erfahrungsorientiert, spielerisch)
  4. Hilfe, Fremde unter uns? Begegnungen mit interkulturellen Mediatoren
    Doppelstunden mit interkulturellen Mediatoren aus vier Kontinenten. Die Klasse begegnet einem Einwanderer, seinem Herkunftsland, seiner Geschichte, den Umständen seiner Migration, seiner Wahrnehmung Südtirols (Methoden: Vom Vortrag bis zum Spiel).
  5. Handlungsorientierte Blöcke (nähere Erläuterung im nächsten „Forum“)
    Interkulturelles Musizieren mit Musikern aus fernen Ländern. Eine gemeinsame Erfahrung mit fremden Menschen schaffen (Musik als gemeinsames Kommunikationsmittel).
    „Obdachlos“– Ein Straßenprojekt: In die Rolle von Einwanderern schlüpfen (am eigenen Leib erfahren, was es heißt, am Rande der Gesellschaft zu stehen).
  6. Abschluss: Ein interkulturelles Fest (selbst organisiert oder an einem teilnehmen)

Literatur:

(in folgenden Publikationen finden sich auch Literatur- und Filmlisten):

 

inter

kulturell