Für Geschichte begeistern
Geschichte lebt – im Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart, an den Schnittstellen unterschiedlicher Sichtweisen und Darstellungen, am Puls von Entwicklungen, politischen Gescheh-nissen, gesellschaftlichen Veränderungen und persönlichen Erlebnissen. Zeitzeugen, die in Schulen von ihren Lebenserfahrungen berichten können, beweisen dies am eindringlichsten. Gar manches bleibt lange Zeit in Archiven unter Verschluss oder auch ungesagt, bis niemand mehr davon erzählen kann. Geschichte war immer schon mein Lieblingsfach. Konsequenterweise bin ich Geschichtelehrer geworden. Ich liebe es, die Verquickung von Entwicklungen der Vergangenheit und aktuellen politischen Vorgängen zu entdecken. Ich finde es unglaublich spannend, unsere heutige Lebenswelt auf ihre historischen Wurzeln zurückzuführen. Ein Beispiel: Südtirols Autonomie ist unter anderem ein Ergebnis des Kalten Krieges, welcher wesentlich mit der Ausbildung verschiedener europäischer Diktaturen im 20. Jh. zu tun hat. Diese wiederum sind nur auf der Basis der Geisteswelt des 19. Jahrhunderts zu erklären, die zerrissen ist zwischen Modernisierung und Restauration. Die Aufklärung schließlich ist die Grundlage für diese dynamischen Prozesse. Das ist ein Gedankenspiel, das sich beliebig weit treiben lässt. Ich bin davon überzeugt, dass fundiertes historisches und staatsbürgerliches Wissen die unabdingbare Voraussetzung für verantwortungsvolle Meinungsbildung zu jedem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema ist. Können Geschichtelehrer/innen das leisten? Ja und nein. Moderne Geschichtswissenschaft ist interdisziplinär. Fächerübergreifendes Arbeiten, Denken und Lernen ist in der Geschichte wunderbar möglich. Das setzt natürlich eine breite Ausbildung, Weltoffen-heit und moderne Unterrichtsmethoden voraus. Damit ist kaum ein Fach so geeignet, ausgewogene und kritische Geister mit zu formen. Jedoch lässt sich nicht alles historisch erklären. Politische Bildung braucht Einsichten in unser komple-xes Rechts- und Wirtschaftssystem. Um als mündiger Staatsbürger die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist es notwendig, Gesetze, wirtschaftliche oder politische Zusammenhänge beurteilen zu können. Hierzu fühle ich mich nicht kompetent genug. Immer wieder wurde in der Vergangenheit gefordert, die Schule müsse ihre Absolventinnen und Absolventen für Politik und Wirtschaft mehr vorbereiten, vor allem auch ihr Interesse daran wecken. Da verwundert es mich schon, dass im Zuge der Oberstufenreform das Fach Rechts- und Wirtschaftskunde an den meisten Schulen stark beschnit-ten und teilweise abgeschafft wurde! Diese Felder einfach in den Geschichteunterricht zu verlagern, ist ein klarer Rückschritt. Noch eine Einschränkung fällt mir auf: Was ich meinen Schülerinnen und Schülern im Unterricht als „Geschichte“ präsentiere, ist notwendigerweise immer eine Konstruktion des Vergangenen aus der heutigen Sicht. Die oft geforderte Objektivität ist eine Illusion; es gibt sie nicht. Aber das ist kein Bein-bruch! Wenn wir dazu stehen, dass wir immer interpretieren, ist das auch ein Gewinn. Wir leiten die Schüler/innen dazu an, sich mit verschiedenen Sichtweisen auseinanderzusetzen, die Konstruktion auch zu dekonstruieren und neu wieder zusammenzusetzen. Man könnte das „gesteuerte Subjektivi-tät“ nennen. Sie schafft auch eine größere emotionale Nähe zum Fach, und wie wir vom renommierten Neurowissenschaftler Manfred Spitzer wissen, funktioniert gutes Lernen nur über positive Gefühle. Das gelingt übrigens auch im klassischen Frontalunterricht: Ich verstehe meinen Beruf im Wortsinne; als Geschichte-Lehrer bin ich auch Geschichtenerzähler. Meine Schüler/innen bezeichnen meine Unterrichtsstunden im Spaß manchmal als „Märchenstunde“. Ich empfinde das als Kompliment, denn wie in einer solchen sehe ich die leuchtenden Augen der Zuhörenden.
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frei heraus gesagt
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