Bypass für den Frieden

 

Ziele der politischen Bildung

 

Geschichte als Reflexionsmaterial für die politische Bildung in ethnisch fragmentierten Gesellschaften kann friedensstiftend wirken: wenn soziale Realitäten ihres Mythos der Unveränderlichkeit verlustig werden und ein gemeinsamer Diskurs in einer ungeteilten Öffentlichkeit stattfindet.

von Günther Pallaver

 

Geschichte, Geschichtsunterricht und politische Bildung weisen seit jeher eine enge Verbindung auf, die sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt hat. Dieser Wandel hing und hängt von den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab.  In der ursprünglichen Tradition entsprach politische Bildung weniger dem Ideal der Aufklärung, die Macht hinterfragt, sondern der Indoktrination, die Macht legitimiert.

Im Gegensatz dazu wird heute in der Verbindung von Geschichte und politischer Bildung vielfach vom „Geschichtsbewusstsein“ ausgegangen, verstanden als lebensweltlicher Zusammenhang zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung.

 

Soziale Wirklichkeit als Ergebnis historischer Prozesse

Nun lässt sich leicht nachvollziehen, dass aktuelle politische Probleme nur dann entsprechend erfasst und reflektiert werden können, wenn deren historische Wurzeln freigelegt werden. Dieser Rückgriff auf die Wurzeln führt uns zu mindestens zwei Erkenntnissen: Historisches Lernen fördert (zumindest potentiell) die Fähigkeit zur Empathie, somit das Einfühlen in andere, um deren Handlungen und Verhalten zu verstehen. Zudem zerstört die Erfahrung mit dem Prozesshaften in der Gesellschaft den Mythos der Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit, ordnet politische Realitäten als Ergebnis von gesellschaftlichen Prozessen ein.

Die historische Orientierungskompetenz kann somit die aktuelle soziale Wirklichkeit analysieren, zurückverfolgen, rekonstruieren, um letztlich immer wieder Fragen der Macht zu hinterfragen.

Entzauberung der Unveränderlichkeit

Geschichte spielt in Südtirol eine besondere Rolle. Denn im Vergleich mit anderen Ländern, in denen mit Geschichte Herrschaftslegitimation betrieben wurde und wird, erfüllt Geschichte in Südtirol noch eine zweite Funktion: Neben der Funktion der Herrschaftsabsicherung nach innen geht es um die Herrschaftsabsicherung nach außen, einer Sprachgruppe gegenüber der/den anderen.

In der Vergangenheit wurden die Geschichte und die Geschichtswissenschaft in den Dienst der nationalen Auseinandersetzungen gestellt, wurde Geschichte zur „Hilfswissenschaft“ der Politik. Italien versuchte mit Geschichte den Herrschaftsanspruch auf Südtirol zu legitimieren, Südtirol versuchte historisch das durch Italien erlittene Unrecht zu beweisen. Italien versuchte den „italienischen“, Südtirol den „deutscher Charakter“ des Landes zu beweisen. In dieser entgegengesetzten Optik wurden die jeweils eigenen „dunklen“ Flecken der Geschichte gerne verschwiegen, verharmlost, unter den Teppich gekehrt.

Soll Geschichte im Sinne der politischen Bildung eine aufklärerische Funktion einnehmen, so erscheint es naheliegend, unter den Sprachgruppen eine gemeinsame Geschichte zu erarbeiten. Gemeinsame Geschichte muss und kann nicht bedeuten, dass die Geschichte zu einer gemeinsam erlebten Geschichte gebeugt, auf gemeinsame Erfahrungen eingegrenzt wird, dass nur die eigene Geschichte wahrgenommen wird; ebenso bedeutsam ist auch die Geschichte der „anderen“ mit deren Argumenten, Erfahrungen und Sichtweisen. Anders ausgedrückt: Geschichte erfüllt im Sinne der politischen Bildung in Gesellschaften, in denen mehreren Sprachgruppen zusammen leben, nicht nur eine Funktion der Aufklärung im weitesten Sinne des Wortes, sondern auch eine friedensstiftende und friedenserhaltende Funktion. Beide Ziele werden nicht nur über die Schule und die politische Bildung vermittelt; andere Institutionen, wie etwa die Medien, sind mindestens genauso wichtig. Dennoch bleibt unbestritten, dass politische Bildung einen wichtigen Beitrag für den Sozialisationsprozess als Friedens- und Befriedungsprozess leisten kann.

In Südtirol stößt man allerdings auf ein politisch-strukturelles Problem. Die ernsthaften Bemühungen zur Abfassung von gemeinsamen sprachübergreifenden Geschichtsbüchern schafft eine gemeinsame Öffentlichkeit, die zwar inhaltlich unterschiedlich wahrgenommen werden kann, aber sie wird zumindest wahrgenommen. Bislang gab/gibt es im Wesentlichen eine geteilte und getrennte „historische“ Öffent-lichkeit. Jede Sprachgruppe wurde mit der „eigenen “Wahrheit“ konfrontiert, ohne die andere zumindest partiell zu kennen. Mit dem Projekt der sprachübergreifenden Geschichtsbücher besteht nun die Chance, dass die jeweiligen „Wahrheiten“ von allen wahrgenommen und reflektiert werden können, wodurch die Fähigkeit zur Empathie geschaffen wird.

An diesem Punkt angelangt stoßen wir auf einen Grundwiderspruch. Kann ein gemeinsames Geschichts-werk im Sinne von politischer Bildung diesen friedensstiftenden, aufklärerischen Auftrag erfüllen, wenn die soziale Wirklichkeit an den kommunikativen Schranken unter den Sprachgruppen festhält? Man kann nicht den Anspruch nach einer „sprachgruppenübergreifenden“ Geschichte erheben, die einen gemeinsamen öffentlichen Raum verlangt, in dem Geschichte, auch kontrovers diskutiert werden soll, wenn diese „gemeinsame“ Geschichte in der sozialen Wirklichkeit, im Alltag des Zusammenlebens wieder getrennt wird. 

Wenn soziale Wirklichkeit als Produkt geronnener Geschichte verstanden wird, so fallen auch die Mythen der Unveränderlichkeit. In Südtirol betrifft dies in erster Linie Fragen der Identität. Die Erkenntnis der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten impliziert auch die Konstruktion von Identitäten. Wenn Identitäten konstruiert werden können, so können sie auch wieder geändert, dekonstruiert werden. Es lässt sich aber

auch eine gemeinsame Identität der verschiedenen Sprachgruppen konstruieren. Auch dazu kann die politische Bildung einen Beitrag leisten.  

Die Politik ist gefordert

Die politische Bildung kann u. a. an ihrer Fähigkeit gemessen werden, solche Fragen zu stellen, die (ethnische) Wirklichkeit zu hinterfragen, einen Beitrag für den Frieden zu leisten. Man würde die aufklärerische Kraft der politischen Bildung aber überschätzen, wenn man nur von dieser die Antwort auf solche Fragen erwartet. Politische Bildung hat mit Politik zu tun. Deshalb ist in erster Linie die Politik gefordert, die soziale Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen.

 

Literaturtipps:

Hellmuth, Thomas/Klepp, Cornelia (2010): Politische Bildung, Wien-Köln-Weimar, Böhlau.

Pallaver, Günther (2006) (Hg.): Die ethnisch halbierte Wirklichkeit. Medien, Öffentlichkeit und politische Legitimation in ethnisch fragmentierten Gesellschaften. Theoretische Überlegungen und Fallbeispiele aus Südtirol, Innsbruck-Wien-Bozen, StudienVerlag.

Sander, Wolfgang (2007) (Hg.): Handbuch politische Bildung, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Kassel, Wochenschau Verlag.
Günther Pallaver ist Universitätsprofessor am Institut für Politikwissenschaft in Innsbruck.

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