Auschwitz liegt in Südtirol
Über die Notwendigkeit einer Tätergeschichte Südtirols
Im Umgang mit der jüngsten Vergangenheit hat man sich in Südtirol lange Zeit schwer getan. Erst in den letzten 20 Jahren vollzieht sich ein deutlicher Wandel durch die Hinterfragung bewährter Geschichtsmythen. Dennoch: eine befreiende Tätergeschichte steht im Opferland noch aus. von Gerald Steinacher
Nach dem Berliner Mauerfall 1989 ist in puncto historische Sichtweisen wieder viel in Bewegung geraten. Staaten, Nationen, Gruppen entdecken ihre Geschichte oder interpretieren sie vollkommen neu. Die Aufarbeitung von Nationalsozialismus und faschistischer Vergangenheit Südtirols durch Historiker/innen hat seit den 1990er-Jahren ebenfalls große Fortschritte gemacht. Besonders die Optionsausstellung des Tiroler Geschichtsvereins (Sektion Bozen) von 1989 markiert einen deutlichen Meilenstein in Richtung einer sprachgruppenübergreifenden Aufarbeitung der Vergangenheit. Das ist in diesem Lande besonders wichtig, wenn man jemals zu einem gemeinsamen Verständnis der jüngsten, besonders durch das Erbe von Faschismus und Nationalsozialismus belasteten Geschichte als eine der Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft kommen will. Dennoch herrscht in der breiteren Öffentlichkeit noch immer das einseitige Bild des „Opferlandes“ vor. Das südliche Tirol wurde nach dem Ersten Weltkrieg Italien als Kriegsbeute zugeschlagen.
Fronten entlang der Sprachgruppen Die deutschsprachige Bevölkerung verweist seit 1970 Jahren auf die Jahre der kulturellen Unterdrückung durch den Mussolini-Faschismus. Man hätte unter dem italienischen Faschismus „gelitten wie die Juden“ und wäre im September 1943 von Hitlers Wehrmacht „befreit“ worden. Im Rahmen der „Option“ von 1939 sah man sich ausschließlich als Opfer, insgesamt sei man passiv, ein Spielball der Mächtigen gewesen. Das stimmt auch, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Die Täter-Rolle nicht weniger Südtiroler im Nationalsozialis-mus wird dabei gerne übersehen. Das hat besonders mit der „ethnischen Versäulung“ (so der Politologe Günther Pallaver) der Südtiroler Gesellschaft zu tun; auf vielen Gebieten spaltet sich die italienisch- und deutschsprachige Bevölkerung. Die Italiener/innen verweisen gerne auf ihre Opferrolle während der NS-Besatzungszeit 1943–1945 und die Südtiroler/innen auf ihre Opferrolle während der 20-jährigen Herrschaft des italienischen Faschismus. Die eigene Gruppe stellte in dieser simplifizierenden und entlang ethnischer Trennlinien interpretierten Geschichtsschreibung angeblich immer die Opfer; die andere die Täter. Auf beiden Seiten wurden nach 1945 „Einheitsfronten“ entlang der Sprachgruppen gebildet, die ganz offen auch zur Durchsetzung politischer Ziele dienten. Diese nationale Frontstellung bewirkte in Südtirol eine ähnliche Situation wie andernorts der Kalte Krieg: Die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit stockt.
Antifaschist und Nazi Lange Zeit war der Umgang mit dem Nationalsozialismus (deutsche Sprachgruppe) und Faschismus (italienische Sprachgruppe) sehr locker. Auf italienischer Seite sind Mussolini-Kalender und saluto romano durchaus nichts Außergewöhnliches, und dies nicht nur in Bolzano. Andererseits wurde in Todesanzeigen und Nachrufen bis vor wenigen Jahren die Waffen-SS geehrt und die Wehrmachtsorden wurden ganz selbstverständlich hochgehalten. Verlage verlegten rechtes Gedankengut und Tageszeitungen wie die „Dolomiten“ hegten das Bild des Südtiroler Antifaschismus. Dass man im Lande aber gleichzeitig Anti-faschist und Nazi sein konnte und kann, ging vollkommen unter. Lange Zeit wurden die Ritterkreuzträger im Lande als Helden gefeiert, während Widerständler und Deserteure als „Verräter“ verschrien wurden. Neinsager zum NS-Eroberungskrieg wie Franz Thaler, dessen Buch „Unvergessen“ sehr viel bewirkt hat, kamen erst vor 20 Jahren zu Wort (sein Buch ist 1988 erstmals erschienen). Hans Egarter, der Leiter einer antinazistischen Widerstandsgruppe und kritischer Geist, wird erst jetzt – 40 Jahre nach seinem Tod – anerkannt. SS-Generäle wurden hingegen in Südtirol bald nach 1945 als treue Urlauber ganz selbstver-ständlich von Tourismusvereinen geehrt. Historische Schuld nimmt zunehmend einen neuen Stellenwert im internationalen Diskurs ein. Der Histo-riker Elazar Barkan spricht von einer neuen globalisierten Moral – von der Entdeckung des historischen Unrechts. Aufarbeitung von historischem Unrecht und Entschuldigung für historisches Unrecht stehen heute jedenfalls weltweit auf der Agenda. Der ehemalige Schweizer Bundespräsident Arnold Koller hat etwa 1997 im Namen seiner Regierung zur Diskussion um die Schweizer Vergangenheit im Nationalsozia-lismus deutlich Stellung bezogen. Er forderte eine „selbstkritische“ wie „respektvolle“ Auseinander-setzung mit der jüngeren Vergangenheit. Koller spricht von einer „Hypothek“, die das nächste Jahrhundert „fatal belasten würde.“ Auschwitz wird zu einem Synonym für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In der Eidgenossenschaft musste man nach langem Zögern auch von offizieller Stelle eingestehen, dass Auschwitz auch in der Schweiz liegt. Das Land ist in vielerlei Hinsicht in den Weltkrieg und den Holocaust verstrickt. Opfer und Täter Auch Südtirol haben unzweifelhaft die „langen Schatten des Holocaust“ (Historiker Tony Judt) eingeholt. Noch steht aber eine tiefgehende Aufarbeitung der Täterrolle des Landes aus: Beteiligung von Südtirolern an Kriegsverbrechen und Holocaust, aber auch an Terrorismus und Rechtsextremismus der 1960er Jahre bis heute. Diese Aufarbeitung ist auch notwendig, um gegen die negativen – oft sehr konkreten – Auswirkungen der Nicht-Aufarbeitung effektiv anzugehen. Die Grenzen zwischen Patriotismus und Extremismus, zwischen Nationalismus und Faschismus verschwimmen in Südtirol bis zum heutigen Tage gerne und oft. Lehrer/innen im Lande stehen rechtsextremen Jugendlichen oft hilflos gegenüber und die Politik scheint auch ratlos. Die Ursachen liegen tief, wurden jahrzehntelang verdrängt. Engagierte Lehrer/innen alleine können hier nicht erfolgreich gegensteuern. Dem Land fehlt offensichtlich auch eine Struktur für Geschichtsforschung. Ein Institut wird seit vielen Jahren von engagierten Historikerinnen und Historikern gefordert, aber die versprochene Umsetzung steht noch aus. Eine solche Einrichtung könnte unter anderem auch die „vorhandenen Hypotheken“ im Land abarbeiten. Wie in Deutschland, Italien und anderswo gab es auch in Südtirol Opfer und Täter sowie Opfer, die auch Täter waren. Die Grande Dame der deutschsprachigen Südtiroler Presse, Martha Ebner Flies, fand unlängst dazu erstaunlich offene Worte. Offenbar vom – mit den Landtagswahlen vom Oktober 2008 eingetretenen – Rechtsruck in Südtirol betroffen, meldete sie sich in „ihrer“ Tageszeitung „Dolomiten“ mit einem Gastkommentar zu Wort: „Wenn man heute aber mit Aussagen konfrontiert wird, dass es nur Opfer gegeben habe, ist es notwendig – schon im Interesse unserer Jugend – an die Tatsachen dieser schreck-lichen Zeit zu erinnern: es darf niemals vergessen werden, dass es in Südtirol nicht nur Opfer gab, sondern auch viele Nazitäter.“ Diese Tätergeschichte Südtirols steht noch aus.
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