Interkulturelle Kompetenz

Südtirol selbst bietet sich als wunderbares Beispiel für eine historisch nachgewiesene Alltagspraxis, die Schulbücher meist verschweigen.

Die Definition von Interkultureller Kompetenz bezieht sich häufig auf einen Prozess des rationalen Verstehens. Tatsächlich aber gestaltet sich die Fähigkeit der Kommunikation mit Menschen aus anderen Kulturen als mehrschichtige Erfahrung, die nicht immer reibungslos verläuft.

von Elisabeth Tauber

Durch die beschleunigten Migrationsbewegungen werden Menschen aus sehr unterschiedlichen Kontexten kultureller Sinnstiftungsprozesse zusammengeführt. Der Begriff „Interkulturelle Kompetenz“ selbst ist das Ergebnis dieser neueren Entwicklung. Dabei haben Menschen die Fähigkeit des Umganges mit Menschen aus Kulturen, deren Sinnstiftungsprozesse von den eigenen abweichen, schon immer beherrscht.

Südtirol selbst bietet dafür ein wunderbares Beispiel, in dem auch historisch nachgewiesen werden kann, wie die Menschen in dieser mehrkulturellen und mehrsprachigen Grenzregion des Transits und der öko-sozial bedingten Migration in ihrer Alltagspraxis interkulturell agiert haben und agieren (vgl. Cole/Wolf 1974; Lanzinger/Saurer 2010). Die lokalen Schulbücher verweisen bedauerlicherweise sehr wenig darauf, auch weil der politische Diskurs zur Darstellung jeweils homogener kultureller, ethnischer oder sprachlicher Gruppen tendiert.

Was ist „Kultur“?

Für das Verstehen des Konzeptes der Interkulturellen Kompetenz müssen wir vor allem den Begriff „Kultur“ als solchen definieren. Eine weitreichende Definition stammt von dem amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz, der schreibt, dass Kultur ein in Symbolen eingebettetes, historisch übermitteltes Bedeutungsmuster ist. Er spricht von symbolischen Formen, die der Konzeption eines Systems inhärent sind und als solche vererbt (inherited) werden. Die Menschen kommunizieren über dieses Wissen und über diese weitergegebene Haltung dem Leben gegenüber. Der Sinnstiftungsprozess von Menschen wird über diese Form der Kommunikation sowohl geführt als auch weiterentwickelt (Geertz 1983). Die Interkulturelle Kompetenz nun ist sensibel für die Tatsache, dass Menschen ihre Lebenserfahrungen jeweils sehr anders interpretieren und gleichzeitig ist die Interkulturelle Kompetenz in der Lage mit Menschen zu kommunizieren, deren Sozialisation in jeweils verschiedenen symbolischen Bedeutungssystemen stattgefunden hat. Beides setzt aber voraus, dass wir Handlungen von Menschen als Ergebnis eben dieser kulturellen Sinnstiftungsprozesse lesen.

 

Eigenkulturelles reflektieren und relativieren

Um wiederum in diesen Lernprozess eintreten zu können, sind wir gefordert, über uns selbst zu reflektieren: Welche Momente haben für die Entwicklungen unserer eigenen Identitäten eine Rolle gespielt? Eine Tatsache macht diesen Prozess besonders interessant: Es ist Menschen unmöglich, die eigenen kulturellen Inhalte zu erklären. Die wesentlichen Säulen unserer eigenen Sinnstiftungsprozesse werden uns erst in dem Moment bewusst, wo wir mit anderskulturellen Sinnstiftungsprozessen konfrontiert werden. Ich bezeichne dieses Moment als Schlüsselerfahrung für die Entwicklung interkultureller Fähigkeiten: Sind wir bereit, das Eigenkulturelle zu betrachten und gleichzeitig in Beziehung zum Anderskulturellen zu relativieren?

Körper ist Träger von Erinnerung

Die meisten Ethnologen greifen aus forschungsimmanenten Gründen auf Erfahrungen der Immersion in eine andere Kultur zurück. Wir sprechen auch von der zweiten Sozialisation. Dieser Lernprozess, den wir als erwachsene Forscher durchlaufen, um aus der Innenperspektive der anderen Kultur ein kulturelles Verstehen entwickeln zu können, ist durchzogen von Erfahrungen der Annährung und Ablehnung, des Verstehens, der Empathie, des Widerstandes… . Diese Erfahrung wird häufig als schmerzhaft, manchmal sogar als bedrohlich erlebt, da der eigene kulturelle Sinnstiftungsprozess vollständig relativiert werden muss. Dieser Relativierungs-prozess ist aber wie schon gesagt die Voraussetzung für die Fähigkeit der Interkulturellen Kompetenz überhaupt. Warum das aber oft sehr schwierig ist, erklärt uns Pierre Bourdieu (1976), der schreibt, dass der Körper, der nicht einfach durch bewusstes Denken (Kognition) übergangen werden kann, wie Erinnerung ist. Wir können beobachten, dass sich häufig zuallererst unser Körper Unbekanntem widersetzt, bevor wir überhaupt die Zeit hatten, darüber nachzudenken, was uns verunsichert. Das bedeutet, dass das Erlernen der Interkulturellen Kompetenz nicht nur über einen kognitiven Rationalisierungsprozess abläuft, wie wir das in vielen Definitionen zur Interkulturellen Kompetenz nachlesen, sondern dass wir zuallererst einen emotionalen und körperlichen Prozess durchleben, den wir bewusst aufgreifen müssen, um uns dem Abenteuer der Interkulturellen Kompetenz zu nähern.

Menschen, die interkulturell sozialisiert sind – wie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – haben diese Prozesse der ständigen Reflexion wie einen Automatismus in ihr Wahrnehmungsschema integriert. Menschen, für die dieser Prozess neu ist, sind gefordert, die Reflexion über sich selbst zu einem Themenfeld zu machen. Hier entscheidet sich, inwieweit wir wirklich die Fähigkeit entwickeln, aus der verunsichernden, zuweilen Widerstand erzeugenden Relativierung heraus zu einem neuen, erweiterten Weltbild zu kommen, in dem die eigene(n) Kultur(en) im Austausch mit einer anderen Kultur bzw. anderen Kulturen bestehen und gleichzeitig weiter entwickelt werden kann (können).

Kinder und Jugendliche als Brückenbauer

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind wichtige Träger der Interkulturellen Kompetenz, denn wir dürfen nicht vergessen, dass Kulturen keine statischen Einheiten mit klaren Grenzen sind; im Moment der Begegnung und des Austausches werden neue Prozesse der Sinnstiftung in Bewegung gesetzt, die neue Formen der Kommunikation – interkulturell – entwickeln und aus deren erweiterten symbolischen Bedeutungsmustern neue Handlungen folgen.

In diesem Sinne sind besonders Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund wichtige Brückenbauer zwischen den Kulturen, da sie sowohl von ihren Eltern als auch von ihrem schulischen und außerschulischen Umfeld symbolische Bedeutungsmuster vermittelt bekommen, die sie spätestens in der Pubertät hinterfragen und neu zusammenfügen, beziehungsweise weiter entwickeln müssen. Die Interkulturelle Kompetenz gilt als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts (vgl. Bertelsmann Stiftung 2006). An den Schulen sind wir gefordert, diese Kompetenzen, die vor allem Kinder mit Migrationshintergrund mitbringen, proaktivierend anzuerkennen und als solche wie die soziale Kompetenz im Bewertungsverfahren sichtbar zu machen.

 

Literatur:

Bertelsmann Stiftung (2006): Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der Interkulturellen-Kompetenz Modelle von Darla K. Deardorff. In: www.bertelsmann-stiftung.de

Bourdieu, P. 1976 (1972): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Cole, J./Wolf, E. (1974): The Hidden Frontier. Ecology and Ethnicity in an Alpine Valley. Academic Press, New York und London.

Geertz, C. 1983 (1973): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Suhrkamp, Frankfurt am Main.  

Lanzinger, M./Saurer E. (Hg.) (2010): Ungleichheit an der Grenze. Historisch anthropologische Spurensuche im alpinen Raum: Tret und St. Felix. Raetia Verlag. Bozen
Elisabeth Tauber ist Ethnologin und Lehrbeauftragte am Institut für Ethnologie in München und an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen.

 

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