Eine Lücke schließen

 

Kürzlich erschien der erste Band des sprachgruppenübergreifenden Südtiroler Geschichtebuches „Übergänge und Perspektiven“. Grund genug für „forum schule heute“ mit den beiden Autoren Erika Kustatscher und Carlo Romeo (beide unterrichten am deutsch- bzw. italienischsprachigen humanistischen Gymnasium in Bozen) ein ausführ-liches Interview zu führen.

 

f: Sie schreiben im Vorwort, Sie wollen nicht das Kleine anschauen, sondern im Kleinen schauen. Können Sie diesen Ansatz genauer erläutern?

Erika Kustatscher: Das ist der Denkansatz der sogenannten Mikrogeschichte. Es ist etwas problematisch, mit dem Begriff Landesgeschichte zu operieren, da man sich dabei auf etwas festlegt, was keine stabile Größe ist. Die zunächst in den Raum gestellte Alternative ist die sogenannte Regionalgeschichte. Aber auch dieser Begriff hat seine Grenzen. Der Begriff Mikrogeschichte ist in dieser Skala derjenige, mit dem man am besten operieren kann, weil man sich damit nicht auf vorgefertigte Konzepte festlegen muss. Mikrogeschichte besteht darin, auf der untersten Ebene zu beginnen und zu fragen, was man für die höheren Ebenen lernen kann. Also nicht das Allgemeine auf den Einzelfall anwenden, sondern fragen, welche Erkenntnisse, die man im Einzelfall gewinnen kann, das allgemeine Bild schärfen.

Carlo Romeo: La citazione parlava delle due prospettive: non solo guardare il piccolo, quindi da una prospettiva grande vedere quali conseguenze la grande storia ha sul piccolo territorio, ma cercare anche di vedere le dinamiche nel piccolo; quello che possono offrire per interpretare anche la grande storia. In genere è corretto dire che bisogna partire da una prospettiva grande, ampia per vedere la storia di un determinato territorio. Però la microstoria deve dare qualcosa di più, cioè deve anche costituire un banco di prova delle grandi interpretazioni. Ecco la frase citata intende questo: il dialogo tra micro- e macrostoria arricchisce entrambe. Riguardo ai concetti di “Landesgeschichte” e “Regionalgeschichte” direi che sono due impostazioni che possono alla fine integrarsi. Infatti, sui contenuti ci siamo quasi sempre trovati d’accordo e siamo giunti a soluzioni in cui anche il punto di vista dell’altro veniva integrato.

 

f: Ein Aspekt dieses Ansatzes, den Sie eben erläutert haben, ist ja auch die Frage nach dem europäischen Kontext. Das Werk will unsere Landes- bzw. Mikrogeschichte in diesen Zusammenhang stellen. Denken Sie, dass Sie dieses Ziel erreicht haben?

Kustatscher: Das ist für uns natürlich schwer zu beurteilen. Es war unser Bestreben und ich denke, da bewährt sich der mikrogeschichtliche Ansatz. Es gibt in der Geschichte Tirols sicherlich Themen, bei wel-chen man auch am Einzelbeispiel für das Ganze lernen kann. Etwa Meinhard II.:  Das Thema Überwindung feudaler Strukturen, modernere Konzepte von Herrschaft, oder der allmähliche Übergang zur Territoriali-sierung, eine engmaschige gut durchstrukturierte Verwaltung, eine weitgehende Entmachtung oder Ein-ebnung adeliger Herrschaftsstrukturen, das sind durchwegs europäische Entwicklungen.

Romeo: In alcune parti questo collegamento è più facile, p. es. pensando alla preistoria o all’ epoca romana Lì è chiaro che il quadro tende naturalmente ad allargarsi. Poi esiste anche un problema specifico di spazio: abbiamo dovuto compiere delle scelte. Man mano che si prosegue, quando gli avvenimenti locali diventano sempre più documentati, allora è più difficile dare spazio ai collegamenti e mantenere lo sguardo su tutto il continente.

f: Das Buch ist v.a. in der ersten Hälfte relativ textlastig. Richtet  sich das Buch eher an Schüler oder an Lehrpersonen?

Kustatscher: An beide Gruppen! Es kann und muss auch nicht unser Ziel sein, dass jeder Schüler jedes Detail zur Kenntnis nimmt und sich merkt. Meine Vorstellung von Unterricht ist nicht die, dass man den Schülern fertige Pakete serviert. Ich finde es ganz wichtig, dass die Schüler einfach lesen. Ich denke, so ein Buch von mittlerer Ausführlichkeit vermittelt ihnen doch eine Vorstellung von dem, was man vielleicht wissen müsste. Wir wissen ja auch nicht alles, was wir wissen wollten oder sollten.

f: Orientiert es sich also nach einer Art historischem Kanon?

Kustatscher: Ich weiß schon, jetzt begebe ich mich auf ein sehr gefährliches Feld, denn das dürfte man ja heutzutage nicht mehr sagen: Ich bin der Meinung, dass es in der Schule einen Kanon geben sollte, in allen Fächern. Wie viel davon erreicht wird, steht auf einem anderen Blatt, aber es darf nicht alles der Beliebig-keit anheimgestellt werden.

f: Sie verwenden kaum Quellentexte. Warum?

Romeo: Questa è una scelta che si è fatta all’inizio, nel senso che questi non sono materiali di lavoro come si fa in un laboratorio di storia. L’incarico prevedeva proprio un manuale, abbastanza agile. L’uso dei documenti dovrebbe essere un’importante momento dell’attività didattica. Ma questo voleva essere un testo di sintesi, organico; non poteva presentare anche dei materiali o degli esercizi. Si è preferita questa forma; uno strumento che possa essere usato in modo flessibile con l’aiuto dell’insegnante.

Per riferirmi alla domanda precedente, in lingua italiana per esempio mancava un testo riassuntivo di questo genere: ci sono opere molto specialistiche oppure testi divulgativi scientificamente poco fondati. Quindi, almeno per il pubblico italiano, questa era la dimensione giusta, anche per un lettore comune. Non è stato pensato soltanto per la scuola.  

f: Frau Kustatscher, sie bezeichnen sich selbst als Theoretikerin. Ist eine solche als Autorin für ein Schul-buch geeignet?

Kustatscher: Ich denke, dass jene, die mich  um die Mitarbeit gebeten haben, wussten, wen sie fragen. Ich halte es für ganz falsch, Fachwissenschaft und Pädagogik zu trennen.

f: Ein sprachgruppenübergreifendes Buch war schon vor langer Zeit angekündigt worden. Wieso hat sich die Arbeit daran so lange hingezogen?

Romeo: Non c’è stato nessun ritardo dovuto a pressioni esterne. Chiaro che un libro di questo tipo, voluto dalla Giunta Provinciale e che ha una dimensione quasi ufficiale, presuppone una serie di controlli che rallentano l’iter: una lettura di qua e una di là, supervisioni, etc. Riguardo a quanto detto prima, cioè che il libro sia “textlastig”, pensi a quanti occhi scrutano questo libro e dicono “Manca questo, manca quello”. L’imprimatur, che deve esser dato anche da tante istituzioni, rallenta ovviamente l’iter.

Kustatscher: Es war auch meine Sorge, die mich lange hat zögern lassen zuzusagen, aber ich kann sagen, man hat uns sehr ernst genommen.

f: Fühlten Sie sich durch die gesellschaftlich politische Situation in Südtirol allgemein unter Druck gesetzt?

Kustatscher: Keineswegs.

Romeo: Per questo volume e anche per il prossimo, no. Forse per il terzo volume ci sarà un’attesa mag-giore, dato che toccherà la storia più recente, il Novecento. Io francamente non ho avvertito nulla se non la responsabilità di fare un lavoro buono, dignitoso. La necessità di un giusto equilibrio e approfondimento.

f: Landesrätin Kasslatter Mur hat beim „Kulturtermin 10“ sinngemäß gemeint, dass sich schon die Arbeit am relativ neutralen Stoff des ersten Bandes sehr mühsam gestaltet habe, man könne sich auf fast Unmögliches einstellen, wenn es um das 20. Jh. gehe. Wie beurteilen Sie diese Aussage?

Kustatscher: Für mich ist das nicht nachvollziehbar. Ich bin an diese Arbeit herangegangen wie an jede andere, nämlich mit dem Ethos der Wissenschaftlerin, zu dem es gehört darauf zu achten, dass man die Schwerpunkte richtig setzt, dass man die vielschichtigen Aspekte richtig gewichtet, nicht einseitig dem eigenen Lieblingsthema folgt.  Eine Sorge, die man immer hat: Ist mir  wohl keine wichtige Literatur entgangen?

f: D. h. dieser Ansatz  geht von der Annahme aus, dass objektive Geschichtsschreibung möglich ist.

Kustatscher: Man tut was man kann.

Romeo: Objektivität ist ein Ziel. Noi tutti sappiamo che la conoscenza storica è sempre qualcosa di rela-tivo, è uno sforzo. Fra vent’anni probabilmente molte cose scritte in questo libro saranno superate, nel senso che quello che possiamo presentare oggi è il quadro attuale delle interpretazioni. Però questo quadro continua a cambiare. Abbiamo una concezione della storia dinamica: è una ricerca continua. Questo si può vedere anche in questo libro, dove si parla della Preistoria e del Medioevo: quante cose sono cambiate proprio nel giro degli ultimi anni! Scoperte nuove che hanno cambiato tutte le interpretazioni precedenti.

f: Lässt sich in Südtirol eine solche Aufgabe ohne die politische Dimension denken? Sie bringen z.B. in diesem Band eine Abbildung des römischen Siegesdenkmals in La Turbie ohne weiterführende Erläuterun-gen. Das lässt in unserem politischen Kontext viel Spielraum für Assoziationen.

Kustatscher: Ja, das darf doch sein. Ich glaube, dieses Siegesdenkmal von La Turbie ist eine Standard-quelle, über die man nicht hinwegsehen darf. Es wäre ein sträfliches Manko in der Professionalität, auf so eine Quelle zu verzichten.

Romeo: Inserire quel monumento serviva a far capire meglio ad esempio la spedizione di Druso, proprio per non farne un unicum. Si comprende che era in corso tutta un’operazione di conquista romana dell’Arco Alpino e che ciò che maggiormente importava sotto Ottaviano era il pieno controllo delle Alpi. Con il monumento di La Turbie si capisce meglio la spedizione contro i Reti, che altrimenti rimane come un fatto singolo, come una cosa leggendaria, mitica, mentre fa parte della sistemazione di tutto l’Arco Alpino. Ovviamente non c’è alcun riferimento all’imperialismo e all’interpretazione che il fascismo fece dei simboli romani.

f: Landesrat Tommasini meint bei der Vorstellung, durch das Buch werde es möglich, „die Geschichte Südtirols aus einer gemeinsamen Perspektive zu betrachten.“ Ist das wirklich möglich und ist das über-haupt sinnvoll? Geht es nicht (laut Vorwort) vielmehr um die Multiperspektive?

Kustatscher:  Meines Erachtens, ja. Andere Stimmen, die zu uns gedrungen sind, politisieren dieses ganze Unternehmen in einer Art und Weise, die mir gar nicht gerechtfertigt erscheint. Für mich ist Geschichte ein Kulturfach wie Literatur oder Philosophie und ich glaube, unter gebildeten Menschen kann man über jedes Thema sprechen. Wir sollten da nicht Probleme konstruieren, die es gar nicht gibt, gewissermaßen voraussetzen, wir seien Gegner und müssten uns zusammenraufen. Ich glaube, diese Zeit ist vorbei.

Romeo: Certo l’assessore Tommasini l’ha detto nel senso propositivo, cioè che la politica culturale deve dare questo messaggio di concordia, di avvicinamento. Anch’io però credo che la storia sia un processo che non possa essere calato dall’alto. La storia è una conoscenza che il singolo deve coltivare, e più questo sguardo è approfondito, più migliora la comprensione dell’altro. Attraverso la storia uno studente di un gruppo linguistico può capire meglio anche la storia degli altri gruppi che convivono in questa terra e sentirsi partecipe. Quindi è un processo un po’ più complesso. Questo libro è uno strumento che finora mancava, uno strumento interessante, che può stimolare la curiosità, però non può avere una diretta funzione politico-culturale.

f: Gibt es eine einheitliche Interpretation der territorialen Geschichte?

Kustatscher: Wir haben beim Verfassen dieses Buches keine neuen eigenständigen Forschungsleistungen erbracht. Unsere Aufgabe war nicht zu interpretieren, sondern eine Synthese dessen zu bieten, was die in den einzelnen Bereichen qualifizierten Fachleute erarbeitet haben.

Romeo: In ogni parte c‘è lo sforzo di dar conto soprattutto delle questioni principali. In ogni capitolo abbiamo cercato di indicare cosa accade a Sud e a Nord. In questo senso si può parlare di più prospettive. In ogni capitolo abbiamo cercato di individuare alcuni momenti chiave, che riassumono il senso delle vicende, perché è facile perdersi nei dettagli, mentre l’interpretazione forte verte sui macrofenomeni; è su questi punti che abbiamo cercato di fornire le interpretazioni più critiche nel senso specifico del termine, le più aggiornate.

f: Auffällig ist die Periodisierung. Der Historiker Erik Hobsbawm spricht vom „kurzen 20. Jh.“ von 1914 bis 1989. Sie durchbrechen diese Einteilung. Warum?

Romeo: Questo è stato un punto di discussione, anche allargata; c’era chi preferiva cominciare il terzo volume con l’inizio del ‘900, anche per collegarlo di più alle radici della lotta nazionale, e chi invece sosteneva che la fine della Prima Guerra Mondiale segna per il Südtirol una cesura forte. Alla fine ha prevalso questa posizione.

Kustatscher: Ich persönlich hoffe sehr, dass diese Frage auch in den Klassen ein Thema sein wird. Es gilt  auch den Schülern bewusst zu machen, dass Periodisierung keineswegs eine ausgemachte Sache ist.

f: Herr Romeo, Sie haben das Team angesprochen, das an den Bänden arbeitet. Warum sind Sie als ausgewiesener Experte für das 20. Jh. bei der Erarbeitung des dritten Bandes nicht mehr dabei?

Romeo: Il lavoro è tanto, accanto agli impegni scolastici, e ho scelto di concentrarmi sui primi due volumi;  anche perché ho giá fatto esperienze con testi sul ‘900 e ho preferito affrontare questioni per me nuove. Conosco molto bene le persone che si dedicano al volume sul ‘900. Sono studiosi e insegnanti con i quali da lungo tempo ho collaborato in molti progetti e sono certo che faranno un ottimo lavoro.

f:  Welche Wirkung erwarten Sie sich von dem Werk?

Kustatscher: Ich warte.  Das kann man nicht steuern.

Romeo: Io vedo con rassegnazione come lo strumento del libro incontri sempre più difficoltà. Però man-cava un libro di questo tipo, riassuntivo ma impostato sulle ultime ricerche. Magari agli esperti dirà poco, però al lettore comune, che ha desiderio di uno sguardo panoramico, può essere utile. Almeno adesso c’è e chi vuole lo può trovare. E poi sono contento che come autori ci siamo trovati: due persone che non si conoscevano prima e che lavorando in maniera serena sono arrivati a condividere impostazione e contenuti; per me è un fatto molto positivo.

f:  Ich bedanke mich für das Gespräch!

 

Die Fragen stellte Chefredakteur Johannes Kofler

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