Hommage an A.

Steh-auf-Männchen oder: warum der Turm von Pisa nicht umfällt

 

Als Kind hatte ich ein Spielzeug, das für mich irgendwann zum Sinnbild eines Lebensziels geworden ist, ein richtiges Emblem, ein Vorbild, ein Exempel. Es war ein kleines Männchen, das man über eine schiefe Ebene herunterpurzeln lassen konnte und das – welch Wunder – am Ende immer aufrecht landete.

Lange Zeit blieb mir das Geheimnis dieses Phänomens verschlossen, bis ich es irgendwann intuitiv verstand und wesentlich später im Physikunterricht dann physikalisch erklärt bekam. Das Männchen musste naturgemäß auf seinen Füßchen landen, weil dort der Schwerpunkt war. Es musste in seine aufrechte Position zurückspringen.

Früh entfacht wurde bei mir auch die Faszination für den Turm von Pisa. Trotz aller Widrigkeiten, trotz saurem Regen und gefährlicher Inklination steht er noch. Er steht, weil sein Schwerpunkt noch über seiner Grundfläche liegt. Es kommt also auf Schwerpunkt und Zentrum an, und auf das Fundament, wenn man Purzelbäume schlagen oder sich zum Fenster hinauslehnen will oder muss. Wenn ich das habe, dann kann ich mich offensichtlich dem wendehalsigen Schicksal stellen, den Widrigkeiten etwas entgegensetzen, dann kann ich mich, wenn ich umfalle oder umgestoßen werde, wieder aufrichten.

Aber ein solches starkes Zentrum zu entwickeln, ist gar nicht so leicht; und doch schaffen es immer wieder Menschen auch in den schwierigsten Situationen. Ich möchte hier an dieser Stelle den Hut vor einem Menschen ziehen, dem ich in den letzten Jahren begegnet bin und der wie mein Stehaufmännchen und der Turm von Pisa für mich zu einem Sinnbild geworden ist: Es war kaum vorstellbar, was A. durchleiden und mit ansehen hat müssen. Und es war noch nicht vorbei: Das Leben, die Umstände, unter denen A. die Schule besuchte, um sich vorwärts zu arbeiten in eine lichtere Zukunft, waren wirklich bedrückend. Aber all dem stellte A. ein „Trotzdem“, ein „Dennoch“ entgegen.

Resiliente Schüler/innen erkenne ich als Lehrperson an:

  • ihrer Verlässlichkeit,
  • ihrer Beharrlich- und Belastbarkeit,
  • ihrem Verantwortungsgefühl,
  • ihrer Bescheidenheit,
  • ihrer inneren Stärke und Widerstandsfähigkeit,
  • ihrem Sinn für das Eigene, der oft als Eigensinn missverstanden wird,
  • ihrer Fähigkeit, um Hilfe zu bitten im Wissen, dass sie sie erhalten werden.

 

Vielleicht ist auch dies das Geheimnis von Resilienz: Um echte Hilfe bitten zu können.

Manchmal wird mir angesichts von A. die Schwäche unserer Jugendlichen bewusster. Ohne anklagen oder verallgemeinern zu wollen, wird man heute zugeben müssen, dass eine große Empfindlichkeit gegenüber der kleinsten Unbill um sich greift. Eine Empfindlichkeit, die bisweilen zu viel kultiviert wird aufgrund einer falsch verstandenen Sensibilität gegenüber psychischem Unbehagen. Dieses psychische Unbehagen ist, weiß Gott, das große Leiden unserer Zeit, aber gerade aus dem Respekt den wahren seelischen Nöten gegenüber darf nicht jedes psychische Wehwehchen zelebriert werden.

Natürlich ist die Lösung nicht die Leugnung des Wehwehchens. Aber manchmal müssten wir uns auf die wirkliche Dimension der Dinge zurückbesinnen und das fehlt doch manchmal, wenn ich die Erklärungen, die Entschuldigungen, die Rechtfertigungen anhöre, die das Kind jeder Verantwortung entheben sollen. Wir sind eine Gesellschaft, die gegen alles versichert ist, in der es bei Unfällen und Unglücken immer einen Schuldigen gibt (es gab niemals vorher so viele Anklagen und Prozesse) und in der man wegen einer kleinen Schürfwunde die Erste Hilfe aufsucht. Übervorsicht und Übervorsorge sich selbst, aber auch den Sprösslingen gegenüber. Aber „eine Generation, die das Fallen verlernt, verlernt auch, wie man hinterher wieder aufsteht.“ (Fred Grimm)

Auch einmal eine Niederlage einstecken und das eigene momentane Unbehagen aushalten zu können, gehört zu den in letzter Zeit viel besungenen Kompetenzen, zu den Sozial- wie zu den Ichkompetenzen. Es ist eine Lebenskompetenz.

Im Wissen: Es gibt noch etwas anderes als diesen einen schmerzhaften Moment.

Fanni A. Storch

Zaun-

gast