Resilienz

Gedeihen trotz widriger Umstände - Revolution durch eine neue Sichtweise

Die Perspektive der Resilienz verweist darauf, dass Menschen widrigen Lebensumständen nicht einfach ausgeliefert sind. Sie können – in Grenzen – solche Umstände auch gestalten. Dabei kommt der Familie, aber auch der Nachbarschaft, der Gemeinde und der Schule eine Schlüsselrolle zu.

von Bruno Hildenbrand

Fachleute, die mit dem Bewältigen menschlicher Krisen befasst sind, lernen in ihrer Ausbildung vorwiegend Störungen kennen. Diese Störungen gilt es zu beseitigen, darin bestehe die professionelle Kunst. Nehmen wir als Beispiel die Pädagogik: Kommt ein Kind in die Schule, wird es daraufhin eingeschätzt, ob es Störungen aufweist, die es am Lernen hindern. Etiketten für solche Störungen gibt es genug. Eines davon heißt ADHS. Ist ein Kind mit einem solchen Etikett versehen, dann ist es auf einen Weg eingespurt, der ihm eine Sonderbehandlung zuweist – eine Sonderbehandlung abweichenden Verhaltens.

Von der Störung zur Bewältigung

Mir sind keine Etiketten bekannt, die die Leistungen eines Kindes herausheben, sieht man einmal ab von Schulnoten. Es war eine bis heute anhaltende und noch immer nicht ausreichend gewürdigte Revolution, als Emmy Werner den Spieß herumdrehte und danach fragte, wie sich ein Kind gut entwickeln kann, auch wenn es in ein riskantes Umfeld hineingeboren wurde. Emmy Werner, in Köln geboren und gleich nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA ausgewandert, wo sie Psychologie studierte, stellte zunächst drei Fragen:

  • Wie kann sich ein Kind gut entwickeln, auch wenn es in eine riskante Umwelt hineingeboren wurde und unter entsprechenden Umständen (z. B. psychische Krankheit, Alkoholismus der Eltern, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, Komplikationen bei der Geburt) aufwächst?
  • Wie kann das Kind bei auftretenden Krisen in der Entwicklung (z. B. Scheidung der Eltern) seine Kompetenzen aufrechterhalten?
  • Welches sind die Schutzfaktoren, die helfen, schwere Traumata zu überwinden?

Das Feld, in dem Emmy Werner ihre Pionierleistung erbrachte, war die Insel Kauai, die zu Hawaii gehört. Dort begleitete sie wissenschaftlich die 698 im Jahre 1955 Geborenen (man nennt das sozialwissenschaftlich „Kohorte“) über 40 Jahre, also von 1955 bis 1995. Ein Drittel der Kinder aus dieser Kohorte, die aus schwierigen Verhältnissen stammten, entwickelten sich gut. Weder waren sie 40 Jahre später arbeitslos, straffällig geworden noch von der Sozialhilfe abhängig. Wo jede(r) andere diese störungsfreie Gruppe vernachlässigt und sein oder ihr Augenmerk auf die problematischen Lebensläufe gerichtet hätte, schaute Emmy Werner auf die gelungenen. Sie fragte danach, welches die Faktoren sind, die helfen, Resilienz zu entwickeln.

Resilienz, ein bis dahin in der Psychologie unbekannter Begriff, bedeutet, nach einer Belastung in den ursprünglichen Zustand zurückzukehren (to bounce back). Diese Bedeutung ist in der Materialforschung gebräuchlich. In der Psychologie bedeutet Resilienz, aus der Belastung und ihrer Bewältigung zu lernen und neue Handlungsmuster und Orientierungen zu entwickeln (to bounce forward).

Resilienzfaktoren

Drei Gruppen von Resilienzfaktoren haben sich im Kindealter als bedeutend herausgestellt:

  • Schützende Eigenschaften beim Kind kommen aus seiner Konstitution, seinen Kommunikations- und Problemlösungsfähigkeiten, seiner Intelligenz und aus seiner planerischen Fähigkeit.
  • Schützende Faktoren in der Familie kommen aus der Geschwisterposition (günstig ist die Position des bzw. der Erstgeborenen), aus dem Vorhandensein von Orientierungspersonen (Mutter, älterer Vater, Bruder, Onkel) und daraus, dass diese Personen klare Bilder von Positionen in der Familie vermitteln. Sind solche Personen nicht vorhanden, ist es wichtig, Ersatz dafür zu finden (falls im Familienumfeld solcher Ersatz vorhanden ist). Schließlich gilt das Vorhandensein stabiler religiöser Überzeugungen in der Familie als Resilienzfaktor.
  • Schützende Faktoren in der Gemeinde beziehen sich auf verlässliche Verwandte, Freunde und Nachbarn sowie auf das Vorhandensein einer Lieblingslehrperson.

Wie diese Übersicht zeigt, läuft hinsichtlich der Entwicklung von Resilienz alles auf die Familie zu. Familienresilienz bezieht sich auf folgende Bereiche des Familienlebens:

  • Kommunikationsprozesse: Hier sind die entscheidenden Faktoren: Klarheit im Ausdruck, offenes emotionales Verhalten und Kooperation beim Problemlösen.
  • Damit eng verbunden sind die organisatorischen Muster. Dazu zählen: Flexibilität, Verbundenheit und das Vorhandensein sozioökonomischer Ressourcen.
  • Dazu kommen familiale Überzeugungssysteme: Sie  beziehen sich im Wesentlichen darauf, auch in Notsituationen von den Fähigkeiten des eigenen Handelns überzeugt zu sein, entsprechend positiv in die Zukunft zu schauen und dem Leben einen Sinn zu geben, der über die unmittelbare Situationsbewältigung hinausreicht.
  • Schließlich ist das Wechselspiel von Integration der Familie nach innen und Adaptation der Familie nach außen als Dimension von Familienresilienz genannt, also die Fähigkeit, je nach Phase im Familienzyklus die Familiengrenze flexibel zu öffnen oder zu schließen.

Schutzfaktoren

Schutzfaktoren belasteter Jugendlicher beziehen sich auf folgende Bereiche:

  • Kontinuierliche Ausbildung im Bereich der Erwachsenenbildung;
  • auf schulische und berufliche Fertigkeiten, die die Jugendlichen z. B. beim Militärdienst erworben haben;
  • auf eine Ehe mit einem stabilem Partner oder einer stabilen Partnerin;
  • auf die Hinwendung zu einer Glaubensgemeinschaft, die aktives Engagement erfordert;
  • auf die Genesung von einer lebensbedrohenden Krankheit oder einem Unfall.

Resilienz, ein dynamisches Konzept

Gerade der letztgenannte Punkt (überstandene Krankheit oder Unfall) weist darauf hin, dass Resilienz kein statisches Phänomen ist, in dem Sinne, dass man sie hat oder eben nicht hat. Emmy Werner betont, dass Resilienz auf einer spezifischen Dynamik beruht: Jede bewältigte Krise bildet einen Rahmen für die Bewältigung der nächsten Krise. Sie nannte dies das Wendeltreppenmodell.

 

Grenzen des Resilienzkonzepts

Inzwischen gehört die Resilienzperspektive zum Grundbestand entwicklungspsychologischen Forschens, wenn sich das auch noch nicht überall hin herumgesprochen hat. Auch gibt es interessante Versuche, Resilienzpotenziale von Kommunen, Regionen und ganzen Gesellschaften zu erkunden. Empirisch kann das Resilienzkonzept als bestätigt gelten. Alleine steht das Resilienzkonzept auch nicht da, denn es steht ihm ein verwandtes Konzept zur Seite: das der Salutogenese. Es wurde von dem israelischen Soziologen Aaron Antonovsky entwickelt und hat ebenfalls eine empirische Grundlage. Während das Resilienzkonzept auf die Frage gerichtet ist, wie Individuen und ihre sozialen Umwelten trotz widriger Umstände gedeihen können, ist das Salutogenesekonzept auf die Frage gerichtet, wie Gesundheit entstehen kann. Die Antwort auf diese Frage sei hier erwähnt: Es ist der Sinn für Kohärenz, der aus den drei Elementen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit einer Lebenssituation besteht.

Grenzen

Grenzen des Resilienzkonzepts sehe ich in drei Punkten:

  • Das schiefe Bild der Wendeltreppe: Wie die Entwicklung als nach vorne gerichtet wahrgenommen wird, wird eine Wendeltreppe als nach oben gerichtet gesehen. Damit wird ein ungebrochener Optimismus verknüpft. Das Leben ist allerdings anders beschaffen: Mal geht es nach oben, mal nach unten, und schließlich ist das Leben endlich. Es wäre daher besser, statt von einer Wendeltreppe von einer Verlaufskurve zu sprechen, die je nach Ausprägung der Resilienzfaktoren eine günstige oder eine ungünstige Richtung annimmt.
  • Der Mythos vom Stehaufmännchen mittels Selbstzuschreibung: Manche Überlebenskünstler/innen sind dermaßen von ihrer Kunst eingenommen, dass sie sich nicht mehr vorstellen können, auch einmal eine kritische Lebenssituation nicht meistern zu können. Solche Menschen ersticken sozusagen an ihrer Resilienz.
  • Der Mythos vom Stehaufmännchen mittels Fremdzuschreibung: Letztere bezieht sich auf die Erwartung anderer, dass jemand sich als resilient erweist und ihm kein Scheitern zugestanden wird.

Von diesen drei kritischen Bemerkungen richtet sich nur die erste direkt an das von Emmy Werner und Kolleg(inn)en vertretene Konzept. Die anderen beiden Punkte weisen auf einen Missbrauch des Resilienzkonzepts hin.

Der Missbrauch geht so weit, dass beispielsweise das amerikanische Militär über Einheiten verfügt, in denen Resilienz antrainiert werden soll. Zu einer technokratischen Umsetzung eignet sich das Resilienzkonzept aber nicht; es bezieht sich auf eine Haltung oder auf eine Perspektive, nicht auf eine Technik.

Fazit

Gedeihen trotz widriger Umstände ist ein Konzept, das Fachleuten aus Pädagogik, Sozialarbeit, Psychologie und Medizin hilft, von ihren Klienten ein differenziertes Bild zu entwickeln. Aus der Perspektive der Resilienz erscheinen Menschen nicht nur als beschädigt, sondern hinter der Beschädigung rücken auch ihre Stärken ins Licht. So lange Stärken und Schwächen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrem wechselseitigen Bezug zueinander gesehen werden, kann das Resilienzkonzept fruchtbar gemacht werden für die psychosoziale Praxis.

 
 

Bruno Hildenbrand von der Universität Jena befasst sich in Forschung und Lehre mit Fragen der sozialisatorischen Interaktion, u. a. auch mit Genogrammarbeit.

 

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