Heterogenitätskompetenz

Ein ungewöhnliches und erstrebenswertes Ziel

Die Umsetzung integrativer und inklusiver Konzepte zeigt sich in unterschiedlichsten Ausprägungen. Es handelt sich um hohe Ansprüche, die sehr oft nicht eingelöst werden, wobei Einstellungen und das Menschenbild von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die Rahmenrichtlinien für den Kindergarten und die Schule in Südtirol gehen von Inklusion aus. Ein Blick Richtung Norden dürfte erhellend wirken.

Als Herausgeber der Reihe „Lebenswelten und Behinderung“ weist Karl Dieter Schuck gleich im Vorwort darauf hin, dass die Bildungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland und die Schulen in den Bundesländern im Umgang mit Behinderungen trotz jahrzehntelanger Integrationsbemühungen zu sehr dem klassischen Denken verhaftet blieben.

Der vorliegende Sammelband enthält 11 grundlegende Texte von Hans Wocken, der sich sowohl mit den Themen der Integration als auch mit der Verwirklichung der inklusiven Schule über einen langen Zeitraum sehr intensiv befasst hat. Wocken hat auch versucht, die Umsetzung der UN-Konvention voranzutreiben. In einem eigenen Kapitel schreibt der Autor von „Sonderpädagogen in der Inklusion. Was sie schon können, was sie noch lernen und was sie wieder verlernen müssen.“ (S. 199)

Im „Anforderungsprofil Inklusion“ unterscheidet Wocken vier Bereiche:

  1. Personale Kompetenzen: Damit ist die Selbstkompetenz von Lehrer/innen gemeint, die bis in existenzielle Tiefen hineinreicht, wofür Hans Wocken die Glaubensfrage in Anlehnung an Goethe mit „Wie hältst Du’s mit der Inklusion?“ formuliert.
  2. Aufgabenkompetenzen: Dazu zählt Wocken alles, was Lehrer/innen im Umgang mit einer heterogenen Lerngruppe tun, z. B. erklären, vormachen, anleiten, beobachten, steuern, eingreifen, helfen, korrigieren.
  3. Kooperative Kompetenzen: Diese beziehen sich laut Wocken auf die kollegiale Zusammenarbeit der Lehrer/innen mit anderen Fachkräften. Gemeint sind Teamarbeit, Teamentwicklung, Aufgabenverteilung, Rollendifferenzierung und interdisziplinäre Zusammenarbeit.
  4. Systemische Kompetenzen: Wocken sieht inklusiven Klassenunterricht in ein vielfältiges inner- und außerschulisches Gewebe eingebunden und umschreibt diese systemische Struktur des Arbeitsplatzes Inklusion mit Stichworten wie Sozialraumorientierung, Organisations- und Schulentwicklung, Elternarbeit, Beratungsprozesse und Sozialpartnerschaften.

Unter den Aufgabenkompetenzen wird die Heterogenitätskompetenz genannt, die als ungewöhnlich bezeichnet wird. Begründet wird dies mit der überragenden Bedeutung, die dem Merkmal Heterogenität in der inklusiven Pädagogik zukommt. Dazu befindet Wocken: „Ein inklusiver Lehrer ist im Prinzip mit der gesamten, denkmöglichen Vielfalt der Kinder konfrontiert – und muss entsprechend vielfältig qualifiziert sein.“ Und weiter: „Alle inklusiven Lehrer sollten also grundlegende Kenntnisse haben über geschlechtergerechte Erziehung, über interkulturelle Erziehung, über unterschiedliche sozialkulturelle Lebenslagen, über differente Entwicklungsphasen und über das gesamte Begabungsspektrum von Hochbegabungen bis hin zu den verschiedensten Behinderungsformen.“ (S. 212) Insofern solle Heterogenitätskompetenz als wichtiges Ziel gelten, das aber nie zur Gänze erreichbar sei.

Die Publikation ist den Pionieren der Inklusion gewidmet:

  • den Kindern, die miteinander und voneinander gelernt haben;
  • den Eltern, die Integration erfunden, gewollt und politisch durchgesetzt haben;
  • den Lehrerinnen und Lehrern, die gemeinsames Lernen im schulischen Alltag umgesetzt haben.

Bleibt zu hoffen, dass deren Wünsche und Vorstellungen im In- und Ausland künftig noch um einiges mehr Unterstützung finden!

Maria Vötter

 

 

 

Wocken, Hans:

Das Haus der inklusiven Schule

Baustellen - Baupläne - Bausteine,

Feldhaus Verlag 2011

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