Schulfrieden lässt sich sichern

Aggressivität und Gewalt aus der Sicht der Hirnforschung

 

Viele Schulen leiden an einem hohen Maß an Aggressivität und Gewalt. Betroffen sind Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Eltern. Dieses Phänomen ist nicht naturgegeben und unvermeidlich. Die Hirnforschung kennt Ursachen und bietet Lösungen an.

von Joachim Bauer

 

Schüler fügen sich häufig gegenseitig Gewalt zu, wobei neben verbalen Feindseligkeiten oft auch physische Gewalt zum Einsatz kommt. Eine besondere Zunahme ist im Bereich des sogenannten Cyber-Mobbing festzustellen: Bei dieser üblen Art des Mobbings stellen sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig in Internet-foren an den Pranger, äußern sich über andere verächtlich oder geben sie der Lächerlichkeit preis. Als Folge der von Mitschülern/innen erlittenen psychischen oder physischen Gewalt können sich schwere seelische Störungen – vor allem Angstzustände und Depressionen bis hin zum Suizid – einstellen.

 

Verbale – und leider auch physische – Gewalt spielt sich nicht nur zwischen Schülern und Schülerinnen ab, sie ist auch ein Problem in der Beziehung zwischen Schülern und Lehrkräften. Von meiner Arbeitsgruppe durchgeführte Studien zeigen, dass Aggressivität im Klassenzimmer – vor allem Beleidigungen und Bedrohungen – der am stärksten auf die Lehrergesundheit durchschlagende Einzelfaktor ist. Auch hier spielt das Cyber-Mobbing eine zunehmende Rolle: Schüler haben heute die Möglichkeit, auch ihre Lehrkräfte in entsprechenden Internetforen an den Pranger zu stellen, zu denunzieren, herabzuwürdigen und lächerlich zu machen. Neben Lehrerinnen und Lehrern werden immer wieder auch Eltern – vor allem allein erziehende Mütter – Opfer von Gewalt seitens ihrer heranwachsenden Kinder.

 

Ergebnisse moderner Hirnforschung

 

Was können wir von der modernen Hirnforschung zum Thema Gewalt lernen? Eine erste wichtige Botschaft lautet: Die Annahme, dass in jedem Menschen eine tief verwurzelte „Lust am Bösen“ angelegt sei, die sich regelmäßig in Gewaltakten gegenüber anderen äußern müsse, hat sich als unrichtig erwiesen. Psychisch durchschnittlich gesunde Menschen, die nicht provoziert wurden, haben keine Freude daran, anderen Leid zuzufügen – das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Wer den vorangegangenen Satz genau gelesen hat, wird erkannt haben, dass hier zwei wichtige Vorbehalte formuliert wurden, die für das friedliche Zusammenleben von enormer Bedeutung sind. Zum einen stellt sich die Frage: Was heißt „psychisch durchschnittlich gesund“ und welche Einflussfaktoren entscheiden darüber, ob ein Mensch „psychisch durchschnittlich gesund“ ist oder nicht? Die zweite Frage ist: Welche Art von Provokation begünstigt Aggression und Gewalt?

 

Tatsächlich ist „durchschnittliche psychische Gesundheit“ eine wichtige, ja unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass Menschen in der Lage sind, ihr Zusammenleben halbwegs friedlich zu gestalten. Nachdrücklich zu betonen ist, dass die allermeisten Menschen, die eine psychische Problematik mit sich herumtragen, nicht gewalttätiger sind als andere! Umgekehrt aber zeigt sich, dass bei Menschen, die zu besonderer Aggressivität oder zu Gewalttätigkeit neigen, immer auch erhebliche psychische Störungen vorliegen. Um diese Störungen besser zu verstehen, sollten wir einen kurzen Blick auf jene Gehirnstrukturen werfen, die man als den „Aggressionsapparat“ des menschlichen Gehirns bezeichnen kann.

 

Der „Aggressionsapparat“ im Gehirn

 

Aggression ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Jeder Mensch muss, um zu überleben, in der Lage sein, sich zu wehren, z. B. gegen körperliche Bedrohungen oder verbale Angriffe. Um sich verteidigen zu können, bedarf es einer gesunden Portion von Aggression. Zur Aggression gehörende Emotionen sind Ärger, Wut oder Zorn. Damit Aggression und die zu ihr gehörenden Emotionen produziert werden können, muss das Gehirn seinen „Aggressionsapparat“ aktivieren.

 

Der „Aggressionsapparat“ besteht aus zwei Komponenten. Die erste Komponente produziert die aufsteigende aggressive Energie, sie ist der „Dampfkessel“, Fachleute sprechen vom „bottom-up drive“. Die zweite Komponente besteht aus Nervenzell-Netzwerken, die ihren Sitz im Stirnhirn haben. Diese Netzwerke bilden eine Art „moralisches Kontrollzentrum“: Sie speichern Informationen darüber, wie sich das, was wir tun oder zu tun beabsichtigen, aus Sicht der jeweils anderen Menschen darstellt. Fachleute bezeichnen diese zweite Komponente als „top-down control“. Jedes Mal, wenn wir wütend werden, werden beide Komponenten aktiv, wobei der „Dampfkessel“ den in uns aufsteigenden Ärger produziert, während uns das „moralische Kontrollzentrum“ Informationen zur Verfügung stellt, die uns – zu unserem eigenen Nutzen – davor bewahren sollen, unangemessen oder überschießend zu reagieren.

 

Menschen mit erhöhter Aggressions- und Gewaltneigung zeigen meistens eine Störung, von der beide Teile des Aggressionsapparates betroffen sind. Wer in den Jahren der Kindheit und Jugend wenig Liebe und Zuwendung erfahren, wer stattdessen Vernachlässigung oder gar Gewalt erlebt hat, der (oder die) kann kein Sicherheits- und Selbstwertgefühl entwickeln. Als Folge entwickelt sich eine erhöhte Reizbarkeit und Explosivität der „Dampfkessel“-Komponente. Bei den meisten Menschen mit besonderer Aggressivität ist jedoch auch das „moralische Kontrollzentrum“ gestört. Dieses Zentrum kann sich beim Menschen nur dann entwickeln, wenn Kinder bereits in frühen Jahren – ab dem etwa 3. Lebensjahr – angeleitet werden, soziale Regeln zu beachten, Rücksicht zu nehmen, mit anderen fair zu teilen und sinnvollen Verzicht zu üben (z. B. nicht immer etwas kaufen zu dürfen oder nicht permanent etwas in sich hineinzustopfen, sondern auf die gemeinsamen Mahlzeiten zu warten).

 

Erziehung und Vorbilder beeinflussen

 

Aus den Ausführungen der vorangegangenen Abschnitte ergibt sich: Der „Aggressionsapparat“ des mensch-lichen Gehirns mit seinen beiden Komponenten („Dampfkessel“ und „moralisches Kontrollzentrum“) kann sich nur dann gesund entwickeln, wenn Kinder und Jugendliche 1. Sicherheit, Liebe und Zuwendung erhalten und 2. von früh an angeleitet werden, soziale Regeln zu beachten, andere zu respektieren, Rücksicht zu nehmen und – da wo es sinnvoll ist – Verzicht zu üben. Liebende Zuwendung einerseits und Grenzen setzende Anleitung zur Einhaltung von Regeln andrerseits haben einen Namen: Erziehung. Erziehung ist keine dem Kind gegen seine biologische Natur aufgezwungene  Maßnahme, sondern eine biologisch notwendige, entscheidende Voraus-setzung für die Reifung des menschlichen Gehirns!

 

„Psychisch durchschnittlich gesund“ können Kinder und Jugendlichen dadurch werden, dass es ihnen vergönnt war, einigermaßen geliebt worden zu sein, Sicherheit erlebt zu haben, nicht durch Gewalt traumatisiert worden zu sein, zugleich aber auch angeleitet worden zu sein, soziale Regeln zu erlernen. Leider fehlte es einem Teil unserer Kinder und Jugendlichen in allen genannten Bereichen. Was können wir tun, dass sich die Dinge mittel- und langfristig zum Besseren entwickeln? Kinder und Jugendliche dürfen nicht sich selbst – vor allem nicht Gewalt verherrlichenden Medien und anderen falschen Vorbildern – überlassen werden! Kinder und Jugendliche müssen gefördert und gefordert werden: sozial-emotional, körperlich (spielerisch-sportlich) und musikalisch. Voraussetzung sind ausreichende vorschulische und schulische Einrichtungen, Ganztags-Betreuung und eine gute Zusammenarbeit von Eltern und Schulen.

 

Ausgrenzung als Aggressionsauslöser

 

Der „Aggressionsapparat“ des menschlichen Gehirns wird – bei psychisch durchschnittlich gesunden Menschen – nicht von alleine, sondern nur dann aktiv, wenn eine entsprechende Provokation vorliegt. Der „zuverlässig-ste“ Auslöser von Aggression ist die Zufügung von Schmerzen. Wer die Schmerzgrenze tangiert, wird Aggres-sion ernten. Ein entscheidender Durchbruch zum Verständnis der menschlichen Aggression war die erst vor wenigen Jahren gemachte Entdeckung, dass die Schmerzzentren des menschlichen Gehirns nicht nur auf körperliche Schmerzen, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung reagieren. Dies erklärt, warum nicht nur körperliche Schmerzen Aggression auslösen, sondern auch Ausgrenzung und Demütigungen.

 

Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich ein wichtiger Ansatzpunkt für eine wirkungsvolle Anti-Aggressions-strategie in Schulen: Kinder und Jugendliche, die zuhause oder in der Schule ausgegrenzt wurden oder werden, reagieren verstärkt mit Aggression und zeigen ein erhöhtes Maß an Gewaltverhalten (Kinder und Jugendliche, welche ihre aggressiven Gefühle nicht nach außen lenken, reagieren statt mit Aggression mit Depression; dies gilt vor allem für das weibliche Geschlecht). Viele Kinder  und Jugendliche erleben Ausgrenzungen oder Demütigungen in ihren häuslichen Milieus, bringen die daraus hervor gehende Aggression aber mit in die Schule und agieren sie hier aus. Daher ist es wichtig, nicht nur innerhalb der Schule – und hier vor allem innerhalb des Unterrichts – Demütigungen zu vermeiden, sondern das Thema auch mit Eltern zu besprechen. Kinder dürfen – und müssen! – dann, wenn sie sich nicht richtig verhalten oder nicht kooperieren, kritisiert werden. Dies muss aber sachlich erfolgen und ohne das Kind lächerlich zu machen oder zu demütigen!

 

Zuletzt erschien sein Buch „Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ (Blessing Verlag München).

Joachim Bauer ist Arzt, Hirnforscher und Psychotherapeut und lehrt am Uniklinikum Freiburg.

 

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