Jetzt wird umgesetzt!

Interview mit Landesrätin Sabina Kasslatter Mur

Wieder einmal steht Südtirols Schule vor Veränderungen. Die einen werden nun umgesetzt, die anderen sind in Ausarbeitung, dazu kommen Visionen für die Zukunft. „forum schule heute“ befragte Landesrätin Sabina Kasslatter Mur zu einigen heißen Themen und ihren Wünschen für die zukünftige Entwicklung der Bildungs-landschaft.

 

 

f: Vereinheitlichung des Schulkalenders: Können Sie noch gut schlafen?

 

Sabina Kasslatter Mur: (zögert) Ja, weil mir mittlerweile bewusst geworden ist, dass in dieser Sache allen Recht getan eine Kunst ist, die ich auch nicht kann. Ich bin nicht im Stande, eine breite Mehrheit für ein Modell zu bekommen. Der Landtag hat die Landesregierung letzten Herbst einstimmig mit der Vereinheitlichung beauf-tragt – und damit muss ich zurecht kommen. Bei mir im Büro stapeln sich hunderte Stellungnahmen und Wünsche, die weit auseinander liegen. Ich mache nun noch einmal eine Anhörung, lasse erheben, was die Nachbarländer machen; bis Jahresende soll eine Entscheidung fallen, damit der neue Kalender ab Herbst 2012 gilt. Das bedeutet übrigens auch, dass die Schulen einen Teil ihrer Autonomie verlieren.

 

Muss alles einheitlich sein?

 

Müssen tut es nicht, aber: Der Rat der Gemeinden wünscht dies; der Schultransport ist kaum mehr zu organi-sieren; die Familien empfinden die Lage als zu chaotisch und uneinheitlich; zudem ist das auch eine Frage der Organisation in den Schulen selbst. Ich bekomme auch die Botschaft, die Sommerferien seien teilweise zu lang. Dies sind nur einige Beispiele.

Wohin geht die Tendenz?

 

Es gibt vier Modelle: Sechs-Tage-Woche, alternierender Samstagsunterricht, Fünf-Tage-Woche mit Ganztags-modell oder Fünf-Tage-Woche ohne zusätzliche Nachmittagsbelastung, dafür mit vorverlegtem Unterrichts-beginn und nachverlegtem Unterrichtsende. Letzteres ist momentan Tendenz.

 

Wenn das Schulende nachverlegt wird, wie geht das mit der Matura zusammen?

 

So weit kann das Schulende nicht zurückverlegt werden, wir reden hier von einigen Tagen.

 

Was ist mit dem so genannten alternierenden Modell, also jeden zweiten Samstag frei mit etwas früherem Schulbeginn?

 

Für mich ist das aber nicht so im Rennen wie die anderen. Es erscheint mir in der Umsetzung für alle Schultypen etwas problematischer, ist aber noch nicht völlig aus dem Spiel.

 

Ist die Sechs-Tage-Variante für alle realistisch? Das würde ja auch für Kindergärten und Berufsbildung gelten, wo der Samstag derzeit frei bleibt.

 

Das hieße tatsächlich, dass Kindergärten/innen und Berufsschullehrer/innen samstags arbeiten müssten. Das könnte schwierig werden. Zur Fünf-Tage-Woche mit viel Nachmittagsunterricht ist zu sagen, dass sich dagegen viele Familien wehren, da die Kinder so überlastet seien. Dem muss ich kritisch entgegenhalten, dass man eben Prioritäten setzen muss. Die Gesellschaft kann nicht verlangen, dass die Schule alles erledigt, alle Ansprüche erfüllt, ohne ihr danach die entsprechende Zeit zur Umsetzung all dieser Ziele zu geben. Eigentlich bildet der Schulkalender lediglich einen Rahmen, denn die Bildungsqualität hängt nicht davon ab, ob die Kinder fünf oder sechs Tage zur Schule gehen.

 

 

Oberstufenreform: Wenn Sie an den Start des Prozesses und Ihre anfänglichen Vorstellungen denken und mit dem Ergebnis vergleichen: Sind Sie zufrieden?

 

Das Herzstück der Reform haben jetzt die Lehrpersonen in der Hand: Sie setzen die neuen Rahmenrichtlinien um. Der neue Schulverteilungsplan ist eine Strukturreform: Die Einschreibezahlen stellen mich noch nicht zufrieden. Es tut mir leid, dass ich für den ursprünglichen Schulverteilungsplan keine Mehrheit bekommen habe. Es wäre zum Beispiel richtig gewesen, Klassisches und Kunstgymnasium mit jeweils einem Standort auf Bozen und Meran zu verteilen. Dass die klassische Richtung in Meran nicht zustande kam, beweist dies auch.

 

Wie bewerten Sie die Einschreibezahlen in die ersten Klassen der neuen Oberstufe?

 

Wir haben erreicht, dass das Interesse am mathematisch/naturwissenschaftlich/technischen Bereich etwas gestiegen ist. Der ist zu schwach besucht, v.a. von Mädchen. Wenn ich an die große Zahl an Eingeschriebenen, v.a. Mädchen, an den sozialwissenschaftlichen Gymnasien denke, stelle ich fest, dass dort zwar eine gute und breite Allgemeinbildung geboten wird, aber die Berufschancen in diesem Sektor sind momentan nicht besonders zukunftsträchtig am Arbeitsmarkt. Das kann in zehn Jahren aber anders sein. Doch die Jugendlichen und ihre Familien haben so entschieden und mir steht es nicht zu, das zu kritisieren. Sie müssen aber klipp und klar Auskunft bekommen über die Sachlage und die Zukunftschancen! Ein Gymnasium mit musikalischer Ausrichtung zu besuchen bedeutet z.B. fünf Jahre lang pro Woche sieben Unterrichtseinheiten weniger allgemeinbildende Fächer auf dem Stundenplan zu haben.

 

Bekommen die Familien diese ehrliche Auskunft?

 

Nicht ganz, weil jede Schule ihren Einfluss und ihr Stellenkontingent halten möchte. Es wird halt Werbung gemacht.

 

Warum hat der erwartete und erhoffte Fluss hin zur Berufsschule nicht stattgefunden?

 

Er hat insgesamt zugenommen. Dieser Bereich ist aber etwas komplett Neues und braucht noch wachsende Bekanntheit. Auch die neuen Oberschulfachrichtungen sind nicht zustande gekommen, etwa jene für Logistik. Das braucht Zeit. Insgesamt haben wir eine sehr gute Verteilung: Je knapp 30% der Jugendlichen besuchen ein Gymnasium bzw. eine Fachoberschule, gut 40% wählen die Berufsbildung.

 

Die Einschreibungen an den sozialwissenschaftlichen Gymnasien haben gewaltige Zuwächse erfahren. Welche Auswirkungen erwarten Sie sich?

 

Ich denke, dass die Kollegien dieser Gymnasien sehr gefordert sind, um das gymnasiale Niveau zu halten. Es reicht nicht, möglichst viele Schüler/innen an Land zu ziehen. Es geht darum, ihnen einen staatlichen Abschluss zu verleihen, der das wert ist, was auf dem Papier steht.

 

Was machen wir mit so vielen Künstlern, Musikern und Pädagogen?

 

Wir müssen noch mehr in gute Orientierungsarbeit investieren, Aussteigerraten und Durchfallquoten weiter verbessern. Die Berufsberatung hat sich sehr bemüht, etwa mit einem Orientierungskoffer für die Oberstufe. Auch die Familien sind gefordert und wir müssen Bewusstseinsbildung betreiben. Die Schulwahl muss sich an den Talenten und Fähigkeiten der Kinder orientieren, nicht an Traditionen oder den Interessen der Freunde! Selbstverständlich müssen auch die Schulen gute und ehrliche Information bieten.

 

Wäre es besser, die Orientierungsarbeit nicht den Schulen zu überlassen, die ja häufig ihre eigenen Interessen verfolgen?

 

Nein, nein. Es spricht ja auch für die Schulgemeinschaften, wenn sie sich um die Jugendlichen bemühen. Familien sollten sich halt mehrere Standpunkte und Überlegungen einholen.

 

Was halten Sie von den Nachprüfungen?

 

Ich bemerke, dass sowohl die Jugendlichen als auch die Lehrkräfte mit den Aufholkursen für die Nachprüfung keine große Freude haben. Deren Sinnhaftigkeit ist eher fraglich, ganz abgesehen von den explodierenden Kosten! Ich erwarte mir einen sinnvollen und kreativen Alternativvorschlag von den Schulen selbst. Ob wir die Nachprüfungen einfach abschaffen können, wäre rechtlich zu klären – das ist Kompetenz des Staates, glaube ich.

 

Wenn es um Schulpolitik geht: entscheiden Sie so, wie es der letzte Stand der Forschungen im Bereich der Pädagogik usw. gebietet oder nach dem, was politisch verwirklichbar ist?

 

Ich muss beides ins Feld führen. Um neue, gesicherte und evaluierte Erkenntnisse – nicht Moden! – umsetzen zu können, brauche ich grundgelegte Gesetzgebung und politische Mehrheiten.

 

Der Rektor der Uni Bozen Walter Lorenz hat bei der ASM/KSL-Großtagung der Politik den Vorwurf gemacht, sie missbrauche die Schule für das politische Tagesgeschäft.

 

So habe ich das nicht gehört und habe mich auch nicht betroffen gefühlt! Unsere Bildungspolitik ist natürlich gekennzeichnet vom Autonomiestatut. Ich gebe zu, dass die Erkenntnisse von Sprachwissenschaft und Hirnforschung teilweise neuer und aktueller als unser Autonomiestatut sind. Dieses ist allerdings unsere kleine „Verfassung“ und beinhaltet mehr als die muttersprachliche Schule. Deshalb verzichte ich als Politikerin momentan auf das Allerneueste in Sachen Sprachwissenschaft und Hirnforschung, wenn dies gegen das Autonomiestatut verstößt. Es gibt genügend Möglichkeiten eines verbesserten Sprachenlernens, die unseren derzeitigen rechtlichen Rahmen nicht sprengen. Ein Beispiel ist etwa der Austausch der Schüler/innen zwischen der deutschen und italienischen Schule im Lande selbst, der gut funktioniert und beste Ergebnisse bringt.

 

Lehrer/innenausbildung: Müssen wir die Uni Brixen reformieren, wie Sie es bei der ASM/KSL-Großtagung angesprochen haben?

 

Ich erwarte mir von der Universität eine professionelle Lehrerausbildung, ganzheitliches Lernen, Kompetenz sowie Forschung und  Entwicklung in Zusammenarbeit mit unseren Schulen. Die Uni in Brixen ist ein junges Kind, das noch Potential zur Entwicklung hat. Zudem ist sie nicht unabhängig von staatlichen Vorgaben, denn die Lehrer/innen der Grund- Mittel- und Oberschule sind nach wie vor Staatsangestellte. Der Staat als Arbeitgeber bestimmt auch über Zugangsvoraussetzungen und Ausbildungswege, was es für uns oft sehr schwierig macht. Ich habe die Uni beispielsweise gebeten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten praxisorientierter zu lehren.

 

Liegt das Problem nicht am zu großen kulturellen Unterschied zwischen unserer Realität und jener der Dozenten, die zum Großteil von auswärts kommen?

 

Mittlerweile gibt es viele einheimische Dozentinnen und Dozenten. Das Renommee der Uni steht und fällt nicht mit der Herkunft der Lehrenden, sondern damit, ob sie dem Anspruch gerecht werden kann, die besten Lehrerinnen und Lehrer für unsere Kinder auszubilden. Und daran arbeitet sie.

 

Die SVP möchte ja nun die Vollautonomie anstreben. Heißt das also „Schule endgültig zum Land“?

 

Mir wäre das nur recht! Dann könnten wir endlich neben veränderten Inhalten alle Erziehungsfachleute Südtirols in einem einzigen Arbeitsvertrag zusammenführen. Wir müssten keine Rücksicht mehr nehmen auf staatliche kollektivvertragliche Vorgaben. Wir könnten endlich innovative Unterrichtsmodelle vorschreiben, etwa durch die Einführung eines Jahresarbeitszeitmodells usw. Der Vertrag ist derzeit das Hindernis par excellence, um die Rahmenrichtlinien bestmöglich umzusetzen. Wir haben engagierte Lehrpersonen, die aber durch das staatliche Korsett eher gebremst als im Reformeifer angeschubst werden. Auch unsere Führungskräfte sollten mehr Macht für gute Schulqualität erhalten, so etwa mit Zuständigkeiten in der Personalauswahl.

 

Vielen Dank!

 

Das Gespräch führte Chefredakteur Johannes Kofler.

 

 

DIS
KUS
SION