Selbstverantwortlich und mündig

Reformschulen gewähren Vertrauensvorschuss

Lisa aus der zweiten Klasse ist heute die Moderatorin im Klassenrat. Sie erteilt dem Erstklässler Paul das Wort. Dieser möchte wissen, wohin es beim Herbstausflug geht. Es werden Ideen gesammelt und Lisa schreibt alles auf - genauso wie der Protokollführer aus der dritten Klasse. Es wird abgestimmt, ich habe als Lehrperson ein Stimmrecht. Zwei Kinder schwätzen und Lisa weist sie daraufhin, dass dies unangebracht sei. Nach ungefähr 15 Minuten steht das Ziel fest.

                                                                                                                     von Karin Dietl

 

Das Erlernen demokratischer Regeln und Haltungen in jahrgangsübergreifenden Klassenverbänden, die nach reformpädagogischen Konzepten arbeiten, kann im Grundschulalter bereits ab der ersten Jahrgangsstufe gelingen. Dafür müssen entsprechende Rahmenbedingungen, aber auch inhaltliche Bezüge geschaffen werden. Es geht um eine pädagogische Grundhaltung, deren Wurzeln in den reformpädagogischen Konzepten zu finden sind: Mitbestimmung und Verantwortung.

 

Viele Wege - ein Ziel

Der französische Reformpädagoge Cèlestin Freinet wollte, dass die Kinder lernen, in einer Demokratie zu leben, verantwortlich für sich selbst und für andere zu sein. Kooperation und Kommunikation sind die wichtigsten Prinzipien in seiner Pädagogik. Er schuf durch seinen Unterrichtsstil ein Klassenklima, in dem Freiheit und Vertrauen vorherrschten.

Nach John Dewey, dem amerikanischen Reformpädagogen, sollte Demokratie stets im konkreten Zusammen-leben verankert und gelebt werden. Dies musste so früh wie möglich in der Familie, in der Schule und in größeren Gemeinschaften geschehen. Unter Demokratie versteht Dewey mehr als die verbreitete  Definition der Demokratie als Herrschaftsform,  nämlich eine Idee des Gemeinschaftslebens.

Unter Berücksichtigung der Achtung vor der Autonomie des Kindes verwirklichte Janusz Korczak, der polnische Kinderarzt und Pädagoge, seine pädagogischen Prinzipien. Er übte demokratische Spielregeln mit seinen Kindern als selbstverständliche Verhaltensweisen im alltäglichen Umgang durch das gemeinsame organisierte Arbeiten und das Tragen von Verantwortung miteinander ein.

 

Peter Petersen betonte in seiner Pädagogik die Wichtigkeit der Gruppe als soziale Erziehungsinstitution. Die Lehrperson ist Teil dieser Gruppe, und Regeln werden gemeinsam vereinbart und eingehalten. Hier spiegeln sich die Parallelen zu Freinet, Dewey und Korczak wider.

Unser Bildungssystem zielt auf die Entwicklung der einzelnen Personen und auf den Erwerb von demokra-tischen Haltungen und sozialen Kompetenzen, die zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft befähigen. Die Rahmenrichtlinien gehen davon aus, dass Lernende und Lehrende in einer offenen Lernatmosphäre, wo demokratische Regeln und Eigenverantwortung gelebt werden, zu einem wertschätzenden Umgang finden können. Die Lehrkräfte sind dazu verpflichtet, ihren Schülerinnen und Schülern, den jungen Bürgern, demo-kratische Haltungen näher zu bringen.

 

Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit

Für den Erwerb dieser Kompetenzen braucht es also Unterrichtsformen, die den Kindern das Einüben von demokratischen Spielregeln ermöglichen. Methodische Verfahren im Unterricht wie die Moderation von Gesprächskreisen (Morgenkreis und Reflexionskreis), eine gemeinsame Planung des Unterrichts, der Stammgruppenrat, der Schülerrat und die Schulfeier sind Möglichkeiten für den Erwerb demokratischer Haltungen.

Ich versuche im Unterricht immer wieder verschiedene Sprechsituationen zu schaffen. Dazu gehören die täglichen Gesprächskreise, die den Kindern die Möglichkeit bieten, wichtige Kommunikations- und Sozial-kompetenzen zu erlangen. Ziel ist die ganzheitliche Entwicklung der Person, wobei es in den Gesprächs-kreisen ganz besonders um die Ziele des mündlichen Sprachgebrauchs geht: das Beachten der Gespräch-sregeln, aktives Zuhören, Mitteilen und Tolerieren von Meinungen, Gefühlen und Absichten, das Vortragen von Inhalten und auch die Beachtung der Körpersprache.

Im Klassenrat werden alle Kinder zum Mitentscheiden über Angelegenheiten der Gruppe aufgefordert. Der Klassenrat hat einen festen Platz im Stundenplan und findet wöchentlich als Ritual statt. Er muss als Möglich-keit zum Erleben und Praktizieren von Demokratie verstanden werden.

Die Schulfeier findet wöchentlich statt. Alle Kinder, welche an der Feier mit einem Beitrag mitwirken wollen, können sich dafür anmelden. Die Organisation übernehmen allein die Kinder. Sie stellen ihre Fähigkeiten aus dem schulischen und außerschulischen Bereich unter Beweis.

Bei der gemeinsamen Planung des Unterrichts geht es darum, viele Momente zu schaffen, in denen die Kinder merken, dass ihre Anliegen bedeutsam sind und dass sie lernen können, ihre Meinung zu vertreten. Kinder und Lehrpersonen planen gemeinsam. Wir wundern uns, wenn Kinder nicht motiviert sind zu arbeiten? Kinder wollen selbst entdecken und dazu müssen wir ihnen die Chance geben. Wir müssen den Kindern den Planungsprozess zu ihrem Tun und Handeln wieder zurückgeben und ihnen somit den Sinn des Lernens unmittelbar zugänglich machen.

Wenn wir vom demokratischen Handeln sprechen, kann es nicht in erster Linie um kognitive Vermittlung gehen. Eine derartige Kompetenzaneignung kann nur in sozialen Lernprozessen stattfinden. Wolfgang Edelstein und Peter Fauser betonen diesen handlungsorientierten Lernbezug im alltäglichen Unterricht und teilen damit die Forderungen der Reformpädagogen. Damit demokratische Kompetenzen nachhaltig erreicht werden können, bedarf es eines kontinuierlichen Trainings im Unterricht. Nur so kann es gelingen, dass Kinder zu Menschen werden, die selbstverantwortlich und mündig in einer pluralistisch geprägten Gesellschaft zurechtkommen.

 
 

Karin Dietl ist Lehrerin in einer jahrgangsübergreifenden reformpädagogisch orientierten Stammgruppe an der Grundschule Prad.

 

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