"Ich hab's ja auch überlebt"

Untersuchung zu Mobbing am Berufsbildungszentrum Bruneck

Die Botschaft ist klar. Wer Mobbing (üb)erlebt hat, der zeigt kein Mitleid mehr, wenn er endlich zu den Stärkeren gehört. Wer gemobbt wurde, der schlägt irgendwann zurück. Fast immer. Bilder aus einer Schule, untermauert durch eine empirische Studie.

                                                                                                                     von Marlene Kranebitter

 

Die ist selber schuld“, meinte S., 16 Jahre, als sie auf die gemeinen Angriffe auf eine Mitschülerin ange-sprochen wurde. „Die ist selber schuld, wenn sie sich nicht wehrt.“ Und außerdem könne man froh sein, dass sie nicht auch noch zugeschlagen habe, das sei nämlich so ihre Art, wenn man ihr zu sehr auf die Nerven gehe.

Die Arbeit in der schulinternen Beratungsstelle gewährt Einblicke in eine Welt, vor der man am liebsten die Augen verschließen möchte. Häufig melden sich die Eltern, weil ihr Sohn, ihre Tochter nicht mehr in die Schule gehen will, hin und wieder geben blaue Flecken einen Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt. Angst ist spürbar, begleitet von Sprachlosigkeit; Angst, dass alles noch schlimmer wird, wenn man mit den Tätern redet. Dabei ist es der einzige Weg, der einzige Ausweg, für Opfer und Täter gleichermaßen. Holt man Mobbingtäter zum Gespräch, so geben sie sich in der Regel cool und sind sich  - zunächst  -  keiner Schuld bewusst. Kratzt man an der Fassade, gewähren die meisten Jugendlichen einen zaghaften Einblick in ihre Seele.

 

Gesamtsituation erfasst

Karl Kirchler, Fachlehrer am Berufsbildungszentrum Bruneck, hat sich in seiner Diplomarbeit zum Abschluss des Studiums der Erziehungswissenschaften mit dem Thema „Mobbing“ auseinandergesetzt und die Situation am Berufsbildungszentrum Bruneck durchleuchtet. Mit 1500 Schülerinnen und Schülern in Vollzeitlehrgängen und Lehrlingsklassen ist das Berufsbildungszentrum die größte Schule des Landes. Grundlage der Unter-suchung war der Smob-Fragebogen nach Kasper, 11 Fragen mit einer Reihe an Antwortmöglichkeiten, 11 Fragen, die auch Mobbing durch Lehrpersonen nicht ausnehmen. „Mobbing ist Unrecht. Aber es passiert leider immer wieder“, heißt es am Ende des Fragebogens. „Es kann je nach Umständen jedem passieren und du bist nicht selbst schuld, wenn es ausgerechnet dir passiert.“ Der Smob-Fragebogen erfasst Angriffe auf die Kommunikation, Angriffe auf die sozialen Beziehungen und das soziale Ansehen, Angriffe auf die Arbeits-situation sowie Gewaltandrohung und Gewaltanwendung.

416 Jugendliche haben sich an der Untersuchung beteiligt, 233 Mädchen und 183 Jungen, die Ergebnisse stimmen nachdenklich. 48% waren von Mobbinghandlungen betroffen. Unterscheidet man zwischen Mobbing I (tägliche Angriffe bzw. mindestens ein Mal pro Woche seit mehr als einem halben Jahr) und Mobbing II (Erleben von Feindseligkeiten über einen längeren Zeitraum, aber seltener als einmal pro Woche) so wird die Situation noch deutlicher. 14% der befragten Jugendlichen sind von Mobbing I betroffen, darunter dreimal so viele Jungen als Mädchen. Am meisten leiden die Jugendlichen darunter, wenn hinter ihrem Rücken schlecht über sie gesprochen wird, dann kommen die Beziehungen zu den Lehrpersonen. Nicht zuhören, nicht aus-reden lassen, anschreien, ungerechte Behandlung tut weh.

 

Thema brennt unter den Nägeln

Eine Facebook-Seite unter einem schrägen Namen, eine Facebook-Seite, wo man sich über eine Mitschülerin und ihre Familie lustig machen konnte, anonymisiert und doch leicht zu erkennen für all jene, denen die Familie bekannt ist – das hatten sich drei 15-jährige Mädchen ausgedacht. Jemand anders hatte schließlich den Mut, mit dem Klassenlehrer zu reden. Sie hätten sich nicht viel dabei gedacht, es sei einfach nur Spaß gewesen. Auch die Burschen, die sich an den Gemeinheiten beteiligten, hatten sich nichts dabei gedacht, als sie V. zum Spottobjekt machten. Es sei einfach nur Spaß gewesen und sie hätten eigentlich niemandem wehtun wollen. Pikantes Detail: Die jungen Leute waren im Rechtskundeunterricht kurz vorher ausführlich über Cybermobbing informiert worden, der Lehrer hatte sie auf die Gefahren aufmerksam gemacht, hatte auch von Rechtsverletzungen und den damit verbundenen Konsequenzen gesprochen. Es flossen Tränen. Es sei halt „einfach geil“ gewesen, „obenauf zu sein.“ Man sei eine Gemeinschaft gewesen, wenn auch nur eine kurzzeitige, hatte sogar ein Gemeinschaftsbuch geführt. Und V. war ein perfektes Opfer: schüchtern, sehr zurückhaltend, etwas pummelig. Dann kamen die Geschichten von den eigenen Verletzungen. Wunden, die noch nicht ganz verheilt sind. Narben auf der Seele. Und wenig Verständnis für das Leid des eigenen Opfers. „Ich hab’s ja auch überlebt, ich hab’s ja auch aushalten müssen.“

 

Hinschauen ist schwer geworden

An wen wenden sich die jungen Menschen, wenn sie gemobbt werden? Die Untersuchung von Karl Kirchler ergab, dass am meisten Vertrauen in Freundinnen und Freunde gesetzt wird, dann kommen die Eltern und erst an vierter Stelle die Lehrpersonen. Und es gibt auch Jugendliche (18%), die angaben, niemanden zu haben, aber auch niemanden zu brauchen.

„Wie kann man das bloß übersehen?“, fragen sich viele, wenn wieder einmal ein Mobbingfall offenkundig wird. Mobbing passiert häufig ganz subtil, oft zwischen den Unterrichtsstunden oder nach dem Unterricht, dann, wenn Lehrpersonen nicht mehr da sind. Die Raufereien im Pausenhof sind sehr selten geworden, die Hektik im Schulalltag wurde größer. „Immer mehr Stress an den Schulen“, titelte eine Südtiroler Tageszeitung kurz vor Schulbeginn. Verhaltensauffälligkeiten, Disziplinlosigkeit, hinschauen ist schwerer geworden. Noch schwerer ist es für die Jugendlichen geworden, Worte für das zu finden, was sie bewegt. Eine beeindruckende Bilder-galerie am Berufsbildungszentrum, entstanden unter der Federführung von Christina Amhof, mit erschüttern-den kurzen Texten, mahnt uns alle zu mehr Aufmerksamkeit.

 

Gemeinsame Front

In den nächsten Wochen wird ein Projekt gestartet, in dessen Rahmen junge Menschen zu so genannten Pausenhoftutoren ausgebildet werden. Sie sollen eine erste Anlaufstelle für Gleichaltrige sein, die Hilfe suchen. Nicht mehr wegschauen. Gemeinsam eine Front bilden. Zeigen, dass Gewalt, in welcher Form auch immer, nicht akzeptiert wird.

In vielen Schulen hängen mittlerweile Plakate. „Mobbing – was du tust“, Mahnung in Schwarz-Weiß und ganz klein, vielleicht zu klein, darunter: „Mobbinghandlungen sind feindselig und unethisch. Sie zerstören einen Menschen in seiner gesamten Persönlichkeit. Auch wenn er überlebt.“

 

Die Diplomarbeit von Karl Kirchler zum Thema „Mobbing in der Schule – erkennen, vorbeugen, intervenieren“ am Beispiel des Berufsbildungszentrums Bruneck ist auf der Homepage der Schule abrufbar.

Der theoretische Teil umfasst grundlegende Informationen zum Mobbing im schulischen Kontext. Die empirische Studie zeigt die Situation auf und gibt deutliche Hinweise auf die Schwachstellen in der Prävention und Intervention

 

 

Marlene Kranebitter ist pädagogische Leiterin und Lehrerin am Berufsbildungszentrum Bruneck.

 

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