Jugend, Jugendarbeit und sozialer Raum
Territoriale Räume in den besiedelten Zonen der modernen Gesellschaft sind keine toten Räume, in ihnen vergegenständlicht sich vielmehr Gesellschaft – so wie sie historisch geworden ist – auf besondere Weise.
von Lothar Böhnisch
In der Anlage von Gebäuden, Verkehrs- und Siedlungsstrukturen, Verdichtungen und Segregationen bilden sich die sozialen Differenzierungen und Schichtungen, Machtstrukturen, soziale Konflikte und soziale Desintegration räumlich ab. Diese „Vergegenständlichung“ von Gesellschaft im Raum wird von den Erwachsenen, die sich vornehmlich über Rollen, Funktionen und Statuspositionen sozial definieren, auf der Bewusstseinsebene der Rationalität verstanden. Kinder und Jugendliche hingegen befinden sich von ihrem Entwicklungsstatus und ihrer Entwicklungsdynamik her noch außerhalb oder neben dieser funktionellen Rationalität. Sie nehmen daher notwendigerweise einen anderen räumlichen Standort, eine andere räumliche Perspektive als die Erwachsenen ein. Sie eignen sich Räume an, um sich in ihnen zu erkennen, sie umzuwidmen.
Kinder entwickeln sich bis in die Jugendzeit über die gleichsam konzentrische Erweiterung ihres räumlichen Erfahrungsraums. Räumliches Lernen steht in seiner identitätsstiftenden Bedeutung neben dem kognitiven Lernen der Schule. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Möglichkeiten der sozialräumlichen Umwelt in einer Gemeinde für Kinder und Jugendliche handlungserweiternd oder blockierend, einschließend oder ausschließend sind.
Die Gegenstände der räumlichen Umwelt – auch wenn sie längst erbaut und gestaltet ist – erfahren ihre zweite, je individuelle Produktion in den Menschen selbst, die ihnen gegenübertreten. Gerade Jugendliche, die sich vornehmlich räumlich orientieren, werden mit den in den Gegenständen liegenden Bedeutungen direkt, im Versuch des Zugangs und der gebrauchswertorientierten Umwidmung konfrontiert. In diesem Aneignungsprozess erhebt sich die scheinbar tote räumliche Welt der Gegenstände zu einer je individuellen sozialräumlich-personalen Anregungsstruktur. Je mehr aber die räumliche Umwelt funktionalisiert ist, desto stärker erfahren die Jugendlichen über ihr entwicklungstypisches räumliches Aneignungsverhalten soziale Kontrolle, gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sie nicht als solche rational identifizieren, aber emotional als Verletzungen, Zurückweisungen und Verlust erfahren. Hier bildet sich wohl auch (mit) die Emotionalität von Argwohn und Unverständnis aus, mit denen Jugendliche oft den institutionellen Anforderungen der Erwachsenenwelt begegnen.
Jungen- und Mädchenräume
Räume sind immer noch vor allem von Jungen besetzt, durch ihre demonstrativen Aktionen markiert. Mädchen sind auf Zwischenräume, Beziehungsnischen und wechselnde Orte verwiesen. Jungen kontrollieren Räume, ihr Verhalten ist Territorialverhalten. Männliche Dominanz drückt sich vor allem in verschiedenen Formen räumlicher Dominanz aus. Männliches Raumverhalten ist Kontrolle, Ausgrenzung, Zurückdrängung anderer Jungen, die nicht der Clique angehören. Sie ist vor allem auch räumliche Zurücksetzung von Mädchen. Allerdings täuscht dieser Eindruck der Zurücksetzung oft. Es handelt sich um ein Bild, das vom Eindruck der Dominanz der Jungen geprägt ist. Dass Mädchen hinter und abseits dieser männlichen Bühne eigene räumliche Bezüge und Strategien entwickeln, gerät dann meist außer Blick. Deshalb ist es notwendig – gleichsam aus der ethnografischen Perspektive – sich auf die Spuren der Mädchen selbst zu begeben, sie nicht vorschnell über die Jungen zu definieren.
Jungen sind in ihrem räumlichen Verhalten in der Tendenz territorial gebunden orientiert, Mädchen suchen eher wechselnde Beziehungsorte, sind mobiler, finden sich an wechselnden Orten zurecht. Es ist ein eigenständiges, strategisches Verhalten von Mädchen, in dem sie eigene Kompetenzen erwerben und einsetzen. Dies erklärt auch die Beobachtung, dass Mädchen Orte nicht einfach wie die meisten Jungen „besetzen“, sondern durchaus abwägen, ob ein Raum – z. B. die Fußgängerzone – ein favorisierter oder ein gefährlicher Ort für sie sein kann. Denn dort gibt es einerseits Situationen, die etwas mit Aggressivität und Gewalt von männlichen Jugendlichen zu tun haben. Andererseits heißt das nicht, dass sie diesen Ort meiden. Sie entwickeln vielmehr ein Gespür für Zeiten und Situationen, in denen sie sich den Raum aneignen können. Mädchen verhalten sich also strategisch, in der Abklärung von Beziehungen und Zugängen.
An diesem Beispiel spiegelt sich eine Grundstruktur geschlechtstypischen Raumverhaltens. Weibliches Raumverhalten ist eher beziehungsorientiert, wechselnde Orte ansteuernd, sammelnd, andere Mädchen anziehend. Männliches Raumverhalten ist eher besetzend, konkurrierend, meist auf einen Ort fixiert, andere abstoßend. Jungen versuchen „ihren Raum“ zu halten, Mädchen geben Räume immer wieder ab, suchen neue auf. Deshalb muss man für das Raumverhalten von Mädchen, weil es durch das raumgreifende Dominanzverhalten der Jungen verdeckt ist, einen besonderen Blick entwickeln können. Meist lesen wir Berichte von aktiven oder auffälligen Jungen, Mädchen kommen nicht vor, scheinen nicht anwesend zu sein. Schaut man näher hin, bemerkt man, dass Mädchen immer wieder da sind, vorbeischauen, wieder gehen und eben nicht immer am selben Platz erscheinen. Wir brauchen also einen räumlichen Blick, der nicht nur auffällige Aktivität, raumgreifendes Verhalten, Dominanz erfasst, sondern auch Flanieren, kurzfristig Verweilen, miteinander ein paar Worte Wechseln, Schauen und Prüfen als Tätigkeiten wahrnehmen kann. Wenn Mädchen flanieren, kommunizieren sie gleichsam mit der Umwelt, schätzen ab, halten nach Möglichkeiten Ausschau. Es ist ein Bewerten, ein Augen-Shopping. Sie drängen sich nicht vor, aber wissen schon, was sie gerne möchten und was nicht.
Natürlich hängt das auch mit der weiblichen Sozialisation zusammen. Mädchen sollen sich zurücknehmen, nicht auffällig sein, sich arrangieren. Dabei wird dann oft übersehen, welche Strategien und natürlich auch Kompetenzen sie im „Verborgenen“ entwickeln. So hat gerade das Augen-Shopping, aber auch das Anprobier-Shopping (ohne dann etwas zu kaufen) eine besondere Bedeutung: Sich kurzfristig in anderen Rollen, anderer Ästhetik, anderen Identitäten vorstellen können. Mädchen können sich durch ein neues Kleid oder Teil aufgewertet fühlen, auch wenn sie es dann wieder zurücklegen. Gleichzeitig bedeutet dieses Umherstreifen und Flanieren auch, dass sie bestimmten Konflikten aus dem Weg gehen wollen, vor allem Konflikten, die aus der Dominanz der Jungen resultieren können.
Gruppe und Raum
Raum und Gruppe gehören in der Jugendphase eng zusammen. Die Gleichaltrigenkultur (Peerkultur) ist als Gruppenkultur sozialräumlich geprägt. Die Stilbildung in Gleichaltrigengruppen geschieht nicht durch Zeichen und Symbole allein, sondern vor allem dadurch, wie sich Zeichen und Symbole in Räumen manifestieren. Dieser Zusammenhang zwischen Raumaneignung und Stil (Wo halten sich die Jugendlichen auf? Wie machen sie sich in Räumen bemerkbar?) macht die jugendliche Subkultur aus. Sie ist aber nicht gelöst von der Erwachsenenkultur, sie ist eben nur anders orientiert, steht in latenter bis offener Spannung zu ihr. Sie ist eben nicht an Institutionen und Rollen, sondern an raumbezogenen Stilen orientiert. Peergroup und Clique geben dem Raum seine soziale Gestalt. Sozialer Raum und Praxis der Peergroup sind miteinander verbunden. Der Raum wird benutzt, genutzt, umgewidmet, besetzt. Gruppen und Cliquen drücken ihre Einheit und Zugehörigkeit vor allem über diese von ihnen gestalteten Räume und ihre symbolischen Markierungen aus. Ihr ethnozentrischer Charakter generiert immer wieder Konflikte und steuert die Konfliktmoderation nach innen wie die Konfliktaustragung nach außen. Jugendpädagogen können ein Lied davon singen, dass einzelne Gruppen das Haus besetzen, für sich markieren. Gruppen und Cliquen drücken ihre Einheit und Zugehörigkeit vor allem über diese von ihnen besetzten Räume und ihre symbolischen Markierungen aus. Das macht sich in der Alltagssprache bemerkbar, wenn man Cliquen nach ihrer räumlichen Zugehörigkeit – nach der jeweiligen Straße oder dem Viertel, aus dem sie kommen, oder nach markanten Treffpunkten – benennt. Lernen in Peergroups vermittelt sich über die Gemeinsamkeit des Erlebens.
Begegnungsräume
Jugendliche leben in der Spannung, sich von der Herkunftsfamilie abzulösen, sich gegenüber der Erwachsenenwelt abzugrenzen und gleichzeitig irgendwie doch erwachsen werden zu wollen – aber „anders“ als es die meisten Erwachsenen demonstrieren. Sie sind auf der Suche nach den „anderen Erwachsenen“, die ihnen offen gegenüber treten, sich ihnen gegenüber aufschließen können und sich nicht hinter den Barrieren des Erwachsenenstatus verstecken. Es sind also offene Begegnungsräume, die die Jugendlichen suchen. Jugendarbeit kann ein solcher Begegnungsraum, Jugendarbeiter/innen können solche andere Erwachsene sein, werden zumindest von vielen Jugendlichen als solche gesucht. Jugendliche werden neugierig, wie Mitarbeiter/innen untereinander zurechtkommen, wie sie sich in ihrer Lebensführung geben, welche Standpunkte sie beziehen, wie weit man mit ihnen gehen kann und wie sie sich in Konflikten verhalten.
In der offenen Jugendarbeit geht es häufig um die Frage nach den Grenzen: Wie, wo und wann muss ich im Umgang mit den Kids und den Jugendlichen Grenzen setzen? Aus der Kinder- und Jugendforschung wissen wir, dass das Experimentieren-Können mit Grenzen jugendkulturell typisch und darin das Setzen von Grenzen pädagogisch zentral ist. Jugendarbeiter/innen nehmen in diesem Zusammenhang für sich in Anspruch, dass sie in ihrem pädagogischen Aufgabenverständnis mit Grenzen anders umgehen als Erzieher/innen in relativ geschlossenen Einrichtungen oder Lehrer/innen in der Schule. Grenzen wollen sie nicht wie dort meist über Regeln, institutionelle Kontrollen und Sanktionen setzen, sondern über Aushandeln und Autorität in der Begegnung. Es ist eine Autorität, die eben darauf setzt, dass die Jugendlichen „andere Erwachsene“ brauchen, um sich sozial orientieren zu können. Viele der Jugendlichen, die in die offene Jugendarbeit kommen, sind auf das Jugendhaus und die Jugendarbeiter/innen angewiesen, reiben sich an ihnen, aber sie suchen bei ihnen auch das, was ihnen anderswo meist abgeht: Dass sich jemand ihnen öffnet, sie so zum Zuge kommen lässt, wie sie sind, und das anerkennt, was aus ihnen kommt. Die Autorität, die sie ausstrahlen, könnte man also als „gebundene Autorität“ bezeichnen. Sie stellt sich nicht durch Zwang her, sondern in einem Bindungsverhältnis, in dem die Jugendarbeiter/innen Autorität und darin Orientierung verkörpern können, weil die Jugendlichen spüren, dass sie darin angesprochen und anerkannt werden.
Literatur
Böhnisch, Lothar (2008): Sozialpädagogik der Lebensalter (6. Aufl. 2012). Juventa
Deinet, Ulrich/Reutlinger, Christian (Hrsg.)(2004): Aneignung als Bildungskonzept der Sozialpädagogik. VS-Verlag
Krisch, Richard (2009): Sozialräumliche Methodik der Jugendarbeit. Juventa
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Lothar Böhnisch, emeritierter Professor an der Technischen Universität Dresden, lehrt Soziologie an der Fakultät für Bildungswissenschaften Brixen der Freien Universität Bozen. |