"Ubiquitous learning"Soziale Netzwerke, informelles Lernen, Handy- und Computernutzung
Das Lernparadigma des „ubiquitous learning“, wunderschön zu übersetzen mit „allgegenwärtiges Lernen“, wird derzeit als neuestes Ergebnis der Auseinandersetzung der multidisziplinären Bildungsforschung mit den Informations- und Kommunikationstechnologien ausgerufen. Ausgestaltet wird allgegenwärtiges Lernen durch den Einfallsreichtum und die Bedürfnisse der Nutzer/innen, nicht durch die Wissenschaft. von Angela Schorr Das allgegenwärtige Lernen bezeichnet Lernen im modernen Nutzerverständnis, nämlich Lernen „anytime, anywhere“, wobei manche Definitionen auch unbegrenzte Inhalte („anything“) einschließen. Die Möglichkeiten zum mobilen Lernen haben sich durch die Zugänglichkeit des Internet über W-LAN und per Smartphone („ubiquitous computing“) in den letzten Jahren enorm erweitert. Die Fusion aus beidem, aus „mobile learning“ und „ubiquitous computing“, führte die Experten zu dem, was man heute als allgegenwärtiges Lernen bezeichnet.
Auf den Spuren der neuen Lernkultur Wissenschaftler der University of Illinois versuchen derzeit, diese Revolution im Lernen statt unter techno-logischen Gesichtspunkten verstärkt aus dem Blickwinkel der Veränderung der Lernumwelten zu analysie-ren. Gelernt wird nicht mehr primär in der Schule, sondern Zuhause, im Café, in den sozialen Netzwerken, in den Medien, in der populären Kultur. Tatsächlich erwächst hier eine neue Lernkultur. Sie wird allerdings nicht primär durch die Bildungsforschung und die Informatik bestimmt, sondern durch die Lernenden selbst und ihr Nutzerverhalten. Bei Auslandsaufenthalten, auf Klassenfahrten und in den Ferien nutzen junge Menschen heute ihr Smartphone, um Übersetzungen in der Sprache des Landes abzurufen und neues Wissen direkt bei Passanten anzuwenden. Immer häufiger sieht man Gruppen von Schülerinnen und Schülern in Freistunden im Café sitzen, den Laptop auf den Knien, um Projektaufgaben zu besprechen und Informationen aus dem Internet zu ziehen, gemeinsam zu üben und zu lernen. Überall im öffentlichen Raum, wo man ruhig sitzen kann oder wo es etwas anzuschauen gilt (Museen, Parks, freie Natur), trifft man auf diese neuen Lernenden. Schnell und unkompliziert holen sie Informationen unmittelbar in Anwendungssituationen ein und verwerten sie. Natürlich ist das nicht gänzlich neu: Auch zu früheren Zeiten haben sich Jugendliche getroffen und miteinander (aus Büchern) gelernt. Ein Dictionary in Buchform war der übliche Begleiter bei Aufenthalten im Ausland. Mit dem Mobiltelefon begann der Wandel: In allen schwierigen Situationen, immer, wenn man Rat und Hilfe brauchte, konnte man sogleich sein soziales Netzwerk aktivieren, sich beraten und informieren. Um zu ver-hindern, dass das Telefonieren überhand nimmt und die Schüler sich zu viel in Facebook aufhalten, verlan-gen die meisten Schulen heute das Ausschalten der Mobiltelefone in der Schule – zumindest für die Zeit des Unterrichts. Hauptakteure, die die Entwicklung antreiben Wer befasst sich mit dem allgegenwärtigen Lernen? Wer sind diejenigen, die die Forschung dazu antreiben? Hauptakteure sind junge ehrgeizige Bildungsforscher/innen aus dem asiatischen Raum (China, Taiwan, Südkorea, Malaysia, Singapur), aber auch aus Europa (Italien, Großbritannien, den skandinavischen Ländern und dem deutschsprachigen Raum). Ein Teil von ihnen ist noch damit befasst, Lernumwelten mit Datenchips in Pflanzen, in der Kleidung, an Objekten etc. auszustatten, um die Aufnahme von Informationen individuell im raum-zeitlichen Bewegungsablauf der Nutzer zu ermöglichen. Andere befassen sich mit Lernumwelten im Internet, die an jedem Ort abgerufen werden können. Wieder andere schaffen Internetplattformen, die den Lernenden das Klassenzimmer „hinterher tragen“ und so beispielsweise kooperatives Lernen mit Teilneh-menden ermöglichen, die sich zeitgleich an verschiedenen Orten befinden. Es sind Bildungstechnologen im Sinne des Wortes, Informatiker/innen mit oder ohne pädagogische Ausbildung, Pädagogen, Psychologen, Ärzte und Sozialwissenschaftler/innen. Von US-amerikanischer Seite versucht das Team des Ubiquitous Learning Institute an der University of Illinois, die neuen Optionen für Lernende mit den von der OECD und anderen internationalen Organisationen ausgerufenen bildungspolitischen Zielsetzungen zu verbinden. Sie erklären die traditionellen institutionellen, räumlichen und zeitlichen Grenzen von Bildung für aufgehoben und weisen darauf hin, dass Lernen nun lebenslang und in allen Lebensbereichen stattfindet. Lernende werden zu aktiven Entdeckerinnen und Entdeckern vorhandenen Wissens. Zwischen Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern verschieben sich die Gewichte. Die Lehrkraft mutiert vom Wissensvermittler, von der Wissensvermittlerin zum „facilitator“. Auch Inklusionsgedanken und die Förderung kollaborativen Lernens gehören zum Repertoire dieser neuen Bildungswelt. Gegenbewegung: Plädoyer für eine neue Lernkultur Inzwischen regt sich aber auch Widerstand! Die Lernenden selbst suchen Auswege aus dieser schönen neuen Bildungswelt. Noch nie waren beispielsweise in Deutschland die großen Bibliotheken so belagert von Schülerinnen und Schülern wie in den letzten Jahren. Nicht nur haben die jungen Leute sie als neue, schulübergreifende Treffpunkte entdeckt. Sie folgen auch gerne dem Rat ihrer Lehrer/innen, sich zum Lernen in ausgewählte Bibliotheken zu setzen, weil es da so schön ruhig ist und man wirklich konzentriert arbeiten kann. Zwar hat man auch dort den wichtigen Internetanschluss zur Verfügung, und viele Schüler/innen nehmen ihren Laptop mit. Aber alle anderen Medien bleiben ausgeblendet und können nicht mehr ablenken. Das ist ein Szenario, das auch der Japaner Noriki Amano vor Augen hatte, als er im letzten Jahr das „anti-ubiquitous learning“ zum neuen Lernparadigma ausrief. Ganz im Gegensatz zum bisher Gesagten behauptet er, dass Lernen eigentlich nur an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten stattfinden kann. Lernende müssen entsprechend eingestellt sein und systematisch und konzentriert arbeiten. Nur so könne Lernen effizient und nachhaltig sein. Mehr als nur „Facilitators“ Während sich vor der Lern- und Bildungsforschung derzeit ein neuer Berg von Arbeit auftut, können die heutigen Lehrkräfte auf die Ergebnisse nicht warten und sollten jetzt schon neue Wege gehen. Viel öfter als zu früheren Zeiten müssen sie prüfen: Was wurde gelernt? Was wurde behalten? Was wurde verstanden? Im guten alten Unterrichtsgespräch müssen viele eindrucksvolle Erlebnisse und Erkenntnisse flexibel und kompetent unterfüttert werden. Die Schüler/innen müssen angehalten werden, ihre Ergebnisse systema-tisch zu dokumentieren. Sie sollen erkennen: Lehrer/innen sind nicht einfach nur „facilitators“. Wissen hat viele Quellen, aus denen man lernen kann, und eine ganz zentrale ist und bleibt der Lehrer/die Lehrerin.
|
THEMA
|
---|