Mit Körperkraft, ohne Machogehabe

In der kleinen Schule SoWoll der Initiative für Soziales, Wohlbefinden und lebenslanges Lernen, die sich zur Zeit im Kinderdorf Brixen befindet, machen die Kinder besondere Erfahrungen. Sie bietet Orientierung für Jungs in ihrem So-Sein.

von Helmut Meisenburg

 

In einer dichten Traube stehen die Kinder um das lodernde und fauchende Feuer herum, jedes hält in der Hand einen dicken Stab aus Eisen und taucht ihn tief in die Glut. Immer wieder prüft Elias, ob das Eisen schon glüht, und dann hastet er damit schnell zum Amboss und schlägt mit seinem Hammer auf das glühende Eisen. „Schau, das wird meine Messerklinge! Darf ich mir dann dazu in der Schule einen Griff schnitzen?“ „Natürlich“, antworte ich ihm, „das machen wir dann gleich morgen nach der großen Pause.“ Mit hochroten Wangen wiederholt Elias die Prozedur mit dem glühenden Eisen. Dann bittet er den Schmied, der mit wohlwollendem Blick neben ihm steht, die letzten und alles entscheidenden Schläge für ihn zu tun, bis die Klinge die richtige Form erhalten hat. Bewundernd verfolgt Elias dabei jede Bewegung des Schmieds, und man sieht ihm an, wie stolz er auf seine Messerklinge ist. Sein Blick sagt: So, wie der Schmied, so möchte ich auch mal werden, und schmieden wie er, das möchte ich auch können!

Am nächsten Tag, gleich nach der großen Pause, steht dann Elias mit seiner Messerklinge erwartungsvoll bei mir in der Werkstatt, um seinen Messergriff zu schnitzen. Wir nehmen eine Axt und gehen in den nahe gelegenen Wald, suchen einen passenden Ast und nach einigen Schlägen bringen wir das Holz in die Schule zurück. Ich zeige ihm an meinem eigenen Schnitzmesser, wie ein Griff geformt werden kann, und Elias macht sich eifrig ans Werk.

Suche nach dem Vorbild

An unserer kleinen Schule „SoWoLL“ unterrichten zurzeit drei Vollzeit-Pädagogen, zwei weibliche und ein männlicher. Während der täglichen Werkstunden sucht sich jeder Schüler und jede Schülerin die für seine/ihre gewählte Tätigkeit passende Lehrperson: Will er oder sie an einem Speckstein arbeiten, geht er/sie zu Frau S., manchmal kommt er/sie damit aber auch zu mir. Will er/sie etwas nähen oder stricken, geht er/sie am liebsten in die Nähstube zu Frau M. Alle Schüler haben in dieser Zeit die freie Wahl des Lehrers und alle Lehrer/innen können mit allen Arbeitsmaterialien umgehen. Und doch ist es auffallend, dass gerade die Jungen den männlichen Lehrer suchen. Schon die Körperkraft, wenn man mit einem Hieb ein dickes Holz spaltet, wenn man mit dem Beitel ein Holz bearbeitet oder einen Nagel einschlägt, beeindruckt die Jungen. Sie suchen mehr als die Mädchen das gleichgeschlechtliche Vorbild.

Suche nach Selbstbewusstsein

In den letzten Jahren ist in der Pädagogik immer stärker die Problematik der Erziehung der Jungen in den Fokus gerückt. Ein Blick auf die Regale der Buchhandlungen bestätigt das: Immer mehr pädagogische Literatur widmet sich der Erziehung der Buben. Meistens sind auch sie es, die dem Lehrer und der Klassengemeinschaft sowohl beim Lernen als auch disziplinarisch Schwierigkeiten bereiten.

Jungen, so hat die Kinder- und Jugendpsychologie deutlich herausgearbeitet, sind außenorientiert, sie rekrutieren ihr Selbst-bewusstsein und ihre Selbstsicherheit mehr als Mädchen aus ihrem Umfeld. Deshalb bedarf es vor allem Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Wie verhält sich ein Mann, wie bewegt er sich im Raum, wie packt er Dinge an, wie begegnet er seinen Mitmenschen? Gerade das Körperliche spielt dabei eine wichtige Rolle. 

Wenn ich mit den Jungen schnitze oder eine andere praktische Tätigkeit ausübe, dann gestalte ich meine Umgebung, und im gemeinsamen Tun entwickeln und erfahren sie ihre eigenen Fähigkeiten, sie lernen an den Werkstücken die sachgemäße Handhabung der Werkzeuge und den gezielten Einsatz ihrer Körperkräfte. Sie machen dabei auch irgendwann die wichtige Erfahrung des Scheiterns, wenn eine Arbeit mal nicht gleich gelingt. Das kann übrigens auch dem Lehrer passieren. Und dann sehen die Kinder, wie der Lehrer mit seinem eigenen Scheitern umgeht. Spielt er sein Scheitern herunter, geht er wie beiläufig darüber hinweg, gibt er bestimmten Umständen die Schuld oder kann er zu seinem Versagen stehen?

Darin zeigt sich das gute oder schlechte Vorbild, das in jedem Fall die Orientierung zu dem eigenen So-Sein gibt. Der Orientie-rung dient es auch, wenn der „geliebte“ Lehrer einmal etwas nicht so gut kann wie die Kollegin und sich dann bei ihr Hilfe erbittet oder ihren Rat sucht. Dabei erlebt er, dass auch das männliche Element seine Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten haben kann und dass sich die Geschlechter in bester Weise ergänzen. Dann ist der Mann kein Macho, sondern Partner im besten Sinne.

Adäquate Betätigungsfelder

Sowohl im Grundschul- als auch im Mittelschulbereich sind heute prozentual erheblich mehr Lehrerinnen als Lehrer tätig. Den Jungen fehlen schon deshalb oftmals die Vorbilder, und es fehlen ihnen auch häufig die ihnen adäquaten Betätigungsfelder. Den größten Teil der Schulzeit sitzen die Schüler auf dem Stuhl, sie werden im kognitiven Bereich gefordert und gefördert, aber wann haben sie die Gelegenheit, mit den Händen etwas räumlich zu gestalten? Mit zwei Stunden Werken in der Woche ist es nicht getan; in dieser kurzen Zeit kann doch kaum etwas Nennenswertes entstehen. Eine wirklich tiefe Befriedigung schöpfen Jungen nicht nur aus guten Zensuren für kognitive Leistungen, sondern gerade für sie ist es wichtig, auch mit Herz und Hand aktiv zu sein. Wenn Schule sich nicht nur als eine Institution begreift, die einen Wissenstransfer bewerkstelligen, sondern vor allem einen zukünftigen Erziehungs- und Bildungsauftrag erfüllen will, dann bedarf es unter anderem der Rücksichtnahme auf die entwicklungsbedingten Eigenheiten von Buben und Mädchen, dann müssen auch viel mehr Männer in Schulen und Kindergärten tätig sein. – Das Problem ist übrigens nicht neu, denn schon Alexander Mitscherlich beklagte in den 60er Jahren den Rückzug des männlichen Elements aus der Erziehung.

Gegenseitige Bewunderung

Im Alltäglichen erleben wir an unserer erst seit diesem Schuljahr bestehenden kleinen Schule „SoWoLL“ immer häufiger in erfreulicher Weise, wie Mädchen und Jungen ihre vielleicht zunächst geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Interessen  nicht nur akzeptieren, sondern bewundernd anerkennen und sogar nachahmen. Da hat ein Mädchen in feinster Weise Geschirr für ihre Puppenstube aus Ton geformt und dazu noch kleine Löffel geschnitzt. Eine kleine Gruppe von Jungen steht bewundernd davor und macht mich auf die Arbeit aufmerksam. „Schau, wie schön das Johanna gemacht hat! Ich könnte doch mal einen Zwergentisch bauen!“

Helmut Meisenburg ist in Pension und

unterrichtet zur Zeit ehrenamtlich

 an der Schule SOWOLL.

PRAXIS