Henri, Fiona, Thomas, Michel & Co.

 

Wie andere Grundschulen sind wir in Bozen/Gries dabei, eine reformpädagogische Richtung aufzubauen. Dies bedarf genauester Planung und intensiver Begleitung. Nur so können Kompetenzen wie eigenverantwortliches Handeln, Präsentieren von Arbeitsergebnissen und transparentes Vorgehen zeitgerecht und in sinnvoller Reihenfolge angegangen und entwickelt werden. Mit Freude und gelegentlich auch mit Verwunderung beobachten wir, wie Kinder beim Lernen führen; sie waren uns schon bald einige Schritte voraus.

von Irmtraud Kuntner

 

Seit der ersten Schulwoche arbeiten die Kinder der ersten Klasse mit individuellen Plänen. Darauf vermerken sie die täglichen Arbeiten, welche sie selbst wählen. Auch die Hausaufgabe bestimmen sie eigenverantwortlich und verzeichnen diese auf dem Plan.

 

Einen Schritt voraus in puncto Elternarbeit

Manchen Eltern fällt es anfangs nicht leicht, sich daran zu orientieren, denn ihre Erfahrung mit Lernen und Arbeiten in der Schule ist in den allermeisten Fällen eine ganz andere. Deshalb ist ein kontinuierlicher Austausch mit den Eltern von großer Wichtigkeit. Aus diesem Grund waren ab November Elternbesuche im Unterricht eingeplant.

Henri, sechs Jahre alt, stellt aber schon in den ersten Oktobertagen fest: ,,Meine Mami versteht meinen Plan nicht, ich habe es ihr oft schon erklärt. Ich glaube, es ist das Beste, wenn sie uns einmal zuschauen kommt!“

 

… in puncto tägliche Pflichtarbeiten

Selbstverständlich sind auch für reformpädagogisch orientierte Gruppen und Klassen die Rahmenrichtlinien verbindliche Vorgabe, was Inhalte und Kompetenzen angeht. So werden Grundtechniken wie z.B. das Lesen, Schreiben oder Rechnen eingeführt (dies geschieht bei uns in Kleingruppen) und täglich geübt. Arbeitsmaterialien hierzu liegen in der vorbereiteten Lernumgebung auf, sind aufbauend strukturiert und berücksichtigen verschiedene Ausgangspositionen der einzelnen Kinder. Um die dafür erforderliche Selbsteinschätzung zu unterstützen, war hier eine gezielte, schrittweise Auseinandersetzung mit dem Material in Begleitung der Lehrerin vorgesehen. Aus diesem Grund wurde ein Teil (zumeist der „anspruchsvollere“) den Kindern vorerst noch vorenthalten.

Fiona, sechs Jahre alt, arbeitet genau und eifrig. Sie kennt alle Buchstaben und äußert sich im täglichen Morgenkreis etwas enttäuscht: ,,Ich arbeite gern mit der Buchstabenkartei. Aber das macht doch keinen Sinn, wenn ich Anlaute suche. Gibt es nichts Schwierigeres?“

Schrittweise Einführung und unterstützte Selbsteinschätzung waren für die meisten Kinder nicht notwendig. Sie gehen auch ohne Lehrerin an herausfordernde, für sie stimmige Arbeiten heran. Fiona hat es vorgemacht.

 

Einen Schritt voraus in puncto demokratische Erziehung

Die Klasse 3C arbeitet seit dem ersten Schultag nach reformpädagogischen Konzepten. So gibt es keinen „Fetzenstundenplan“ (s. Peter Petersen), die Kinder teilen sich ihre tägliche Lernarbeit unabhängig von Stunden- und Fächervorgaben ein. Je nach Zeitrahmen am jeweiligen Tag vermerken sie auf ihrem individuellen Plan mehr oder weniger, längere oder kürzere Arbeiten.

In dieser Klasse sind überdurchschnittlich viele charakterstarke, selbstbewusste und verhaltenskreative Kinder. Seit jeher braucht diese Gruppe deshalb zunehmend Zeit und Raum, um Fragen, welche nicht direkt mit Lerninhalten zusammenhängen, zu diskutieren. Dabei geht es vorrangig um soziale Themen, Mitbestimmung, Anerkennung und Kritik von Arbeitsweisen in der Gruppe. Wir Lehrerinnen halten uns während dieser Diskussionen zurück, die Kinder steuern und moderieren.

Über einige Wochen zu Beginn des heurigen Schuljahres wiederholten sich in solchen Gesprächen (sie fanden immer spontan, meist nach den Pausen statt und dauerten im Schnitt eine halbe Stunde) folgende Aussagen: „Das ist jetzt nicht wichtig, wir verbrauchen die Zeit für Freiarbeit.“ „Da müssen wir eine neue Regel finden, aber nicht jetzt.“ „Ich habe einen Vorschlag für Kunst, wann kann ich den machen?“ „Wir könnten eine fixe Zeit für diese Besprechungen planen, wie bei der Monatsfeier.“ „Wir schreiben alles auf ein Plakat, worüber wir sprechen wollen.“ „Es entscheidet immer die Mehrheit.“

Die von uns Lehrerinnen angedachten, seit geraumer Zeit notwendigen „Klassenräte“ oder „Klassenversammlungen“ waren geplant, die Kinder haben es – ohne unser Zutun – in die Hand genommen.

 

… in puncto Ganzheitlichkeit

Obwohl wir keinem Fächerplan im Stundenrhythmus folgen, ist dennoch wöchentlich am Donnerstag eine Doppelstunde im Kunst- und Werkraum eingeplant. Dies, um zum einen die Fachräume nutzen zu können, zum anderen war dies die erste Situation, in welcher die Kinder der ersten und dritten Klasse zusammen arbeiten konnten. Zumeist geschah dies im Partnersystem.

Michel (sechs Jahre, aus Hamburg) und Thomas (acht Jahre, aus Goldrain) hatten sich auf Anhieb gefunden; ihre Lust am Bauen mit Holz hatte sie zusammen geführt. Ihre Kreativität führte sie vom spontanen Bauen mit rohen Holzteilen übers neu Planen, Besprechen der Möglichkeiten, Aufzeichnen von Ideen, Abmessen von Holzteilen zum Organisieren (und Benennen) von Werkzeugen und spezifischen Arbeitsschritten. 

Die genannten Tätigkeiten zogen sich über einen längeren Zeitraum hin. Deshalb widmeten sich Michel und Thomas auch wenig den täglichen Pflichtarbeiten, über welche die Kinder regelmäßig berichten und reflektieren. Dies geschieht im Abschlusskreis vor dem Nachhausegehen innerhalb der altersgemischten Stammgruppen, und dabei richteten einige Kinder an die beiden „Baumeister“ folgende Fragen: „Habt ihr eure tägliche Pflichtarbeit in Schreiben gemacht?“ „Was habt ihr heute gerechnet?“

Michels und Thomas’ Antworten waren: „Wir haben einen Plan gezeichnet und die Teile der Burg (das war das Endprodukt) aufgeschrieben und abgemessen.“ Ihre Begründungen waren für alle einleuchtend, Sinn machend, stimmig. Ganzheitlich eben.

   
   
Irmtraud Kuntner ist Lehrerin an der Grundschule Bozen/Gries

PRAXIS