Mehrsprachigkeit und Mehrfachzugehörigkeit

Der vorliegende Beitrag befasst sich weniger mit der linguistischen als vielmehr mit der sozialpädagogischen Frage: Wie steht es in unserem nach Landessprachen getrennten Schulsystem um die Entfaltungsmöglichkeit ethno-kulturell mehrfachzugehöriger, zwei- und/oder mehrsprachiger Schüler/innen?

von Irene Cennamo

 

Der Begriff „Mehrsprachigkeit“ steht für die Fähigkeit bzw. Kompetenz eines Einzelnen oder einer Gesellschaft, sich in mehre-ren Sprachen angemessen zu verständigen. Den Grad der Angemessenheit bestimmen in unserem Berufsumfeld die europäi-schen Niveauskalen (A1-C2) bzw. die Kann-Beschreibungen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens je nach sprach-lich-rezeptiven (Hören/Lesen) sowie produktiven (Sprechen/Schreiben) Fertigkeiten.

Weniger geläufig und sperriger hingegen ist die Bezeichnung „Mehrfachzugehörigkeit“. Ich übernehme sie hier in der begrifflichen Bestimmung von Paul Mecheril: „Diese hybride Form von Identität, in der Mehrfachzugehörigkeit sich zu einem lebbaren Identitätsraum (trans)formiert, ist in der deutschsprachigen Diskussion lange Zeit nicht beachtet worden. Auch die deutschsprachige Pädagogik, gefangen in der Debatte, ob ‚Kultur’ und ‚Ethnizität’ angemessene Analysekategorien seien, hat diese kreativen Formen des kulturellen und auch sprachlichen Grenzgängertums lange Zeit übersehen und damit nicht anerkennen können.“ (Mecheril 2004, S. 76)

Sprachliche, kulturelle und soziale Heterogenität ist eine gesellschaftliche Realität, die nun durch die massive Migration auch an Südtirols Schulen verstärkt in Erscheinung tritt. Die Gesellschaft hat sich stark gewandelt, ist bereits sehr differenziert und nicht eindeutig einzuordnen. Der Begriff „Zugehörigkeit“ ist in der Interkulturellen Pädagogik ohnehin umstritten, weil er an bekannte Muster der „Wir und Anderen-Unterscheidung“, der Differenzhypothese, anschließt und damit gleichzeitig Ausdruck von sozialen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen ist.

Die Frage ist nun, wie heute mit fachkundigem Wissen bezüglich Interkultureller Bildung an einsprachigen Schulen mit zwei- bzw. mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern umgegangen wird? Begegnet man ihnen mit monolingualem Habitus (s. dazu: Gogolin 1994) oder herrschen in heterogenen Klassen bereits eine mehrheitlich auf Pluralität orientierte Unterrichtspraxis und ein auf Bildungssprache ausgerichteter Lern- und Lehrstil vor? Es gilt zu beachten, ob die mehrsprachige Kompetenz aller Schüler/innen im Unterricht eingesetzt und gefördert und mehrfachzugehörige Identitäten als solche wertgeschätzt und anerkannt werden oder ob sich  mancherorts auch folgende Denkmuster durchsetzen:

„[…] Natio-ethno-kulturell Mehrfachzugehörige, sind die im Prinzip Unentscheidbaren, sie sind doppeltes Mitglied, doppelt wirksam und doppelt verbunden, (…). Der Doppel-Status (…), der nicht selten auch ein doppelter Status der Nicht-Zugehörigkeit ist, wird von einer auf die Einwertigkeit sozialer Zugehörigkeit angewiesenen Ordnung hervorgebracht und von dieser Ordnung nicht anerkannt, weil er ihr (modernes) Grundprinzip bedroht. Das beängstigende an mehrfachzugehörigen Anderen ist ihre promiske Grundstruktur. […] Exklusiv einwertige Verständnisse von Zugehörigkeit werden durch hybride Zugehörigkeiten problematisiert. Die Eindeutigkeit der Unterscheidungsmöglichkeit wird (in der Migrationsgesellschaft) durch diejenigen problematisiert, die sich, ohne dass ein Wille dies hervorgebracht hätte, der Eindeutigkeit entziehen. […] Pädagogisch macht es Sinn, Zusammenhänge zu schaffen, in denen die Bildungs-Potenziale jener sozialen und personalen Formen zur Geltung kommen, die sich den Ordnungen der Eindeutigkeit nicht fügen. Dies kann sinnvoller Weise aber nur geschehen, wenn die Zugehörigkeitsordnungen selbst zur Disposition stehen und verändert werden: top down und bottom up.“ (Mecheril/Hoffarth 2009, S. 258-259)

 

Pluralität anerkennen

Überall entstehen kulturelle Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben und zur gleichen Zeit auf verschiedene kulturelle Traditionen zurückgreifen. Diese Identitäten sind weder zu therapeutisieren, als sei ihre Mehrfachzugehörigkeit und gelebte Zwei- oder Mehrsprachigkeit etwas, was ausschließlich Mängel verursacht und durch kompensatorische Maßnahmen zu beheben ist, noch sollen die Betroffenen in einen inneren Zugehörigkeitskonflikt gedrängt werden. Häufig geraten Mehrfachzugehörige „(…) mit der offiziellen Zugehörigkeitsordnung, die auf Eindeutigkeit der Mitgliedschaftsverhältnisse (…) und auf Verbundenheitsverhältnisse beruht (…), in ein Spannungsverhältnis.“ (Mecheril/Hoffarth 2009, S. 259)

Mein Beitrag enthält daher eine eindringliche Aufforderung an alle Lehrkräfte und Pädagogen, ihren Bildungsauftrag zu reflektieren, denn ein langfristiges Ziel der Schule sollte es sein, allen Kindern und Jugendlichen zur Entwicklung eines ausgeprägten Selbst- und Sozialbewusstseins zu verhelfen. Von grundlegender Bedeutung für die biografische Lebens-bewältigung und die soziale Integration sind jedoch auch die Anerkennung und Wertschätzung von Mehrfachzugehörigkeiten und die Aussicht auf Entfaltung eines mehrsprachigen und mehrwertigen Möglichkeitsraumes. Andernfalls wird eine positive Identifikationsmöglichkeit für Menschen mit Migrationshintergrund selbst noch in der zweiten und dritten Generation verhindert.

„Die Frage, wie es gelingen kann, die Potenziale aller Kinder und Jugendlichen optimal zu fördern und das bestehende Gefälle in den Leistungen und Abschlüssen entlang der Trennlinien Ethnizität, sozialer Herkunft und Geschlecht abzubauen, gehört zu den Kernproblemen gegenwärtiger Bildungspolitik. Ein wichtiges Ziel schulischen Wandels ist eine qualitativ hochwertige und sozial gerechte Bildung, durch die alle Heranwachsenden die Kompetenzen erwerben können, die sie benötigen, um in einer pluralen Gesellschaft unter Anerkennung der Menschenrechte zu urteilen, zu handeln und an demokratischen Prozessen teilzuhaben.“ (Fürstenau/Gomolla 2011, S. 7)

 

Literatur

Fürstenau, Sara/Gomolla, Mechtild (Hg.) (2011): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Gogolin, Ingrid (1994): Der monlinguale Habitus der multikulturellen Schule. Münster/New York: Waxmann

Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz

Mecheril, Paul/Hoffarth, Britta (2009): Adoleszenz und Migration. Zur Bedeutung von Zugehörigkeitsordnungen. In: King, Vera / Koller, Hans-Christoph (Hg.): Adoleszenz – Migration – Bildung. Bildunsgprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 239–258

 
 

Irene Cennamo ist als freie Mitarbeiterin am Sprachenzentrum der FUB und als Vertragsdozentin u. Sprachlernberaterin tätig.
Derzeit belegt sie ein Forschungs-doktorat an derFakultät für Bildungs-wissenschaften der FUB in Brixen
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