Friedenspädagogik

 

„Friedenspädagogik ist nicht einfach neuer Inhalt für die Pädagogik, sondern es ist Sozialkritik auf das Feld der Pädagogik gewendet, die untersucht oder überprüft, wie weit die Pädagogik selbst (...) friedensfördernd ist oder nicht.“ So pointiert formulierte es Werner Wintersteiner, der Gründer und Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

von Renate Grasse und Robert Pechhacker

In der Praxis gehen die zwei oben genannten Richtungen ineinander über. Die Arbeit an den Inhalten steht in der Wechsel-wirkung mit der Reflexion und Bearbeitung der eigenen Verhältnisse.

 

„EDUCATION ABOUT PEACE“

Wir sind im Foyer eines bayerischen Gymnasiums, die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik hat die Ausstellung „Wir scheuen keine Konflikte“ aufgebaut. Die Ausstellung  informiert über das Konzept des Zivilen Friedensdienstes und zeigt praktische Beispiele aus verschiedenen Konfliktregionen dieser Welt.

Mitarbeiterinnen der Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik arbeiten mit einer 10. Klasse in der Ausstellung. Unterstützt von Studierenden führen sie ein vierstündiges Schulklassenprogramm durch. Die Schülerinnen und Schüler erfahren, wie Men-schen in Krisengebieten unterstützt werden, die bestehenden Konflikte mit friedlichen Mitteln zu bearbeiten oder nach einer Phase der gewaltsamen Kämpfe zusammen zu leben. Sie erfahren etwas über die Ziele des Zivilen Friedensdiensts, der Gewalt  eindämmen und die zivilen Kräfte der Gesellschaft dabei stärken will.

Betty Reardon, eine prominente amerikanische Friedenspädagogin, würde das „education about peace“ nennen: Die Jugendlichen lernen etwas über den Frieden. In moderierten Arbeitsgruppen setzen sich die Schülerinnen und Schüler auch mit den „Friedensfachkräften“ auseinander, jenen in Deutschland ausgebildeten deutschen und nicht-deutschen Fachleuten, die ähnlich wie Entwicklungshelfer die lokale Bevölkerung unterstützen. Sie haben oft die Funktion der dritten, nicht einge-bundenen Partei und können daher eine allparteiliche Position einnehmen. Die Friedensfachkräfte haben Kompetenzen erworben, um die Kommunikation zwischen verfeindeten Gruppen aufrecht zu erhalten. Sie erarbeiten mit den Menschen vor Ort neue Perspektiven und engagieren sich für den Schutz der Menschenrechte.

 

PARALLELEN ZU DEN EIGENEN VERHÄLTNISSEN

Regelmäßig thematisieren die Schülerinnen und Schüler in den Arbeitsgruppen anhand der Fallbeispiele Parallelen zu den eigenen  Verhältnissen, zu den Problemen des „respektvollen“ Umgangs miteinander und zu Fragen der Versöhnung. Es geht um die Kompetenzen für ein friedliches, gerechtes und demokratisches Zusammenleben in der Schule, in der Familie, in der Kommune und damit um „education for peace“, die Erziehung zum Frieden.

Das Schulklassenprogramm beginnt mit einem „Meinungsbarometer“: Entlang einer Schnur positionieren sich die Schüler und Schülerinnen irgendwo zwischen „ja“ und  „nein“ zu einer  Aussage, zum Beispiel: „Die Kriege in der Welt interessieren mich, auch wenn ich nicht direkt betroffen bin“. Jede und jeder hat seine eigene Meinung.  Die pädagogische Leitung fragt einzelne Schülerinnen und Schüler, warum sie an dieser spezifischen Stelle stehen. Die Befragten können ihre Gründe nennen, die Pädagogin fragt nach, ob sie das richtig verstanden hat, fragt andere Schüler, die woanders stehen, nach ihrer Perspektive, aber sie bewertet und zensiert nicht. Wenn Schüler/innen sich nicht zu ihrer Position äußern wollen, ist das auch okay. Das Programm respektiert die Meinungsfreiheit, ermutigt aber auch zur Beteiligung. In kleinen Gruppen mit eigener Betreuung durch Studierende, wird jede Schülerin und jeder Schüler wahrgenommen, kann sich einbringen und wird unterstützt. Das Programm setzt wertschätzenden Umgang und demokratische Mitwirkung um, es ist „education by peaceful means“.

Die von Betty Reardon unterschiedenen Dimensionen von Friedenserziehung – education about peace, education for peace und education by peaceful means – sind keine graue Theorie. Es kann gelingen, sie neben- und miteinander umzusetzen und in Wechselwirkung zu bringen. So weit die gute Nachricht.

 

AUFSCHLUSSREICHE BEOBACHTUNGEN

Im vorgestellten Beispiel sind aber auch die Schwierigkeiten von Friedenserziehung in der Schule klar zutage getreten. In einer Klasse gab es eine Mädchengruppe, die sich beim Meinungsbarometer immer als Block positionierte, und zwar stets in der Mitte. Sie signalisierten eine „weder-noch“ Meinung.  Über die Gründe wollte keines der Mädchen Auskunft geben. Wir Pädagogen waren beunruhigt, denn dieses Verhalten ist ein Indiz für ein gestörtes Vertrauensverhältnis innerhalb der Klasse. Im weiteren Verlauf des Programms lief die Arbeit in Kleingruppen gut, aber in allen Plenumsphasen erwies es sich als schwer, den wertschätzenden Umgangs zu wahren. Als beispielsweise ein Mindmap besprochen wurde, deutete ein Junge auf einen Beitrag und fragte scharf: „Wer hat denn das geschrieben?“ „Die Frage ist nicht erlaubt“, intervenierte die Pädagogin, „wir können uns gemeinsam fragen, was das bedeutet und auch eine Gegenmeinung haben. Aber es darf niemand  bloßgestellt werden“. Es wurde klar, dass eine Gruppe von klugen und  wortgewandten Jungen die Lufthoheit über die Meinungen beanspruchte und damit letztlich bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern die Suche nach der eigenen Meinung im Diskurs unterband. Dieses undemokratische soziale Gefüge lässt sich innerhalb eines vierstündigen Programms beobachten, aber nicht bearbeiten. Die Pädagoginnen teilten ihre Beobachtungen einer Lehrkraft der Klasse mit. Sie bewertete die soziale Situation in der Klasse jedoch nicht als besonders schwierig.

DAS SPANNENDE AN DER FRIEDENSERZIEHUNG

Eine weitere Grenze für Friedenserziehung in der Schule sprachen einige Schülerinnen und Schüler an. „Das ist ja total interessant“, sagten sie den Studierenden, die ihnen die in der Ausstellung vorgestellten Projekte des Zivilen Friedensdienstes näher erläuterten. „Es wäre toll, wenn wir im Unterricht auch solche Themen hätten“. Wie viel Friedenserziehung lassen die Lehrpläne zu? Oft wird die Erziehung zum Frieden als Teil des Politik- oder Sozialkundeunterrichts verstanden, und da auch nur eingebettet in militärorientierte Sicherheitspolitik. Im Zeitalter der „neuen Kriege“ ist das nicht mehr angemessen. Kriege finden nicht mehr zwischen Staaten, sondern innerhalb von Staaten statt. Das berührt dann Fragen der Rechte von Minder-

heiten, der gerechten Verteilung des Zugangs zu Ressourcen. Damit sind die Kernfragen des Friedens immer auch Fragen der gesellschaftlichen Verhältnisse im eigenen Land und das kann Friedenserziehung verdammt spannend machen.

Ein weiteres Arbeitsfeld der Friedenspädagogik ist die Arbeit am Zusammenleben innerhalb einer Schulklasse. Diese Aufgabe braucht einen eigenen Auftrag, der meist erst dann erteilt wird, wenn die Klassengemeinschaft in eine Krise gekommen ist. Das Miteinander hat sich so entwickelt, dass sich Phänomene wie Mobbing etablieren konnten. Oft liegen ungelöste Konflikte, Ungleichbehandlung, ausgrenzende Gruppenbildung und gegenseitige Stigmatisierungen vor. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen haben gemeinsam mit ihrer Haltung, unbedachten Äußerungen, strukturellen Zwängen oder großer Distanz zur Lebenswelt der Mitmenschen die Konfliktdynamik ermöglicht oder zumindest zu ihrer Erhaltung beigetragen.

 

VERBESSERUNGEN ALS AHA-ERELEBNIS

Viel zu oft konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf „Täter“, die als Bedrohung wahrgenommen werden. Friedenspädagogik interpretiert die Situation als Konflikt und richtet den Blick auf die Bedürfnisse aller Beteiligten. Der Leidensdruck ist hoch, nicht nur für die direkten Opfer, sondern auch für diejenigen, die die Situationen mitbekommen und selbst zwischen „da muss man doch was machen“ und „hoffentlich lassen sie mich in Ruhe“ hin und her gerissen sind. Belastet fühlen sich aber auch die, die als Täter agieren. Auch die Lehrkräfte klagen. Friedenspädagogisches Arbeiten setzt nicht an der Bewertung von Handlungen der Beteiligten an, sondern öffnet den Blick für die Wechselwirkungen innerhalb einer Grupp. Die Arbeit an der Veränderung des Klassenklimas ist partizipativ, sie fördert durch Allparteilichkeit der externen Pädagogen die Bereit-schaft, miteinander zu kooperieren, aktiviert die Ressourcen der Individuen und der Gruppe und traut den Jugendlichen zu, eigen-verantwortlich eine positive Entwicklung ihrer Gemeinschaft voranzutreiben. Das Stichwort „ownership of conflict“ beschreibt diese Haltung. Den beteiligten Personen wird der Konflikt nicht aus den Händen genommen, sondern sie bleiben Handelnde. Dies bringt es mit sich, dass die Erwachsenen es aushalten müssen, dass die Ergebnisse der Arbeit nicht vorher-bestimmt sind. Sich einlassen können auf ergebnisoffene Prozesse ist für die Arbeit mit Konflikten eine der wichtigsten Kompetenzen. In der Arbeit am Friedensprozess in der Klasse erleben die Jugendlichen, wie sich Zivilcourage, Versöhnung und ein friedliches Miteinander entwickeln und gestalten lassen. Für viele Kinder- und Jugendlichen, aber auch für die Lehrkräfte ist es ein Aha-Erlebnis, dass es tatsächlich gelingen kann, eine Verbesserung zu erzielen.

Mit dem Einblick in zwei Projekte der Friedenspädagogik haben wir versucht, einige Standards dieser Bildungsarbeit abzu-bilden. In den genannten Beispielen bringen externe Fachkräfte sowohl Kompetenzen als auch eine spezifische Grundhaltung in die Schule mit. Sie unterstützen Schulen in der Entwicklung zu einer  Bildungseinrichtung, in der nicht nur Kenntnisse über Friedensprozesse erworben und Konfliktkompetenzen geübt werden, sondern in der Kinder und Jugendliche erleben, wie sich eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung entfalten kann. Schülerstreitschlichter und Klassenrat sind ein Versuch, konstruktive Konfliktaustragung und partizipative, demokratische Kommunikationsformen in die Schule zu bringen. Diese Verfahren alleine können die Kultur des Miteinanders nicht nachhaltig verändern. Sie bleiben Nischen, weil sie in ihrer Grundhaltung oft im Widerspruch zum bewertenden Schulsystem stehen.

 

HERAUSFORDERUNG FÜR ALLE AKTEURE  

Obwohl der Schulalltag viele Chancen zum Leben von Toleranz, Courage, respektvollem Miteinander bietet, klagen Kinder, Jugendliche und Erwachsene über zu wenig Anerkennung und Wertschätzung, fehlende Möglichkeiten für Partizipation in der Schule. Die Überwindung dieses Widerspruchs ist eine Herausforderung für alle Akteure im System. Die  Angebote der Arbeits-gemeinschaft Friedenspädagogik richten sich grundsätzlich immer auch an die Erwachsenen einer Schule. Die Bildungsarbeit bezieht  die Lehrkräfte ein. Auch Eltern fragen nach Vorträgen an. Wir halten das für eine positive Entwick-lung. Wir erleben von den Buben und Mädchen eine große Begeisterung und Offenheit, neue Wege zu gehen und sich mit bislang unbekannten Themen zu beschäftigen. Die Wirkung und Nachhaltigkeit, das zeigen verschiedene Evaluationen, ist dann gegeben, wenn die Erwachsenen diese Begeisterung und Offenheit teilen.

 

INFO-KASTEN

Im Zivilen Friedensdienst (ZFD) arbeiten staatliche und nichtstaatliche Friedens- und Entwicklungsdienste Seite an Seite. Zusammengeschlossen haben sich sieben Organisationen im Konsortium Ziviler Friedensdienst, um gemeinsame Standards für ihre Arbeit zu entwickeln. Die Fachkräfte tragen in unterschiedli-chen Regionen der Erde auf Wunsch lokaler Partner vermittelnd und unterstüt-zend dazu bei, Feindschaft, Angst und Misstrauen zu überwinden. Diese Ziele werden durch die Stärkung von vorhandenen Gemeindestrukturen, Konflikt-interventionen und Peacebuilding-Arbeit erreicht, sowie durch die Unterstützung der Partnerorganisation bei der Öffentlichkeitsarbeit und Wirkungsanalyse. Der ZFD erfährt mittlerweile weltweit Anerkennung und ist Vorbild für andere europäische Länder. www.ziviler-friedensdienst.org

Die Ausstellung „Wir scheuen keine Konflikte“ will dieses Engagement und die Erfolge ziviler Konfliktbearbeitung bekannter machen. Sie bietet interessante Zugänge für die politische Bildung zum Frieden. Die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik stellt die Ausstellung zur Ausleihe zur Verfügung. Program-me für Schulklassen werden auf Anfrage organisiert. Kontakt: info@agfp.de

Die Pädagogin Renate Grasse und der Diplom-Sozialpädagoge Robert Pechhacker arbeiten an der Schnittstelle von Theorie und Praxis für die Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik, Institut für Gewaltprävention und demokratische Bildung, in München. Weitere Informationen, auch zum Zivilen Friedensdienst, unter  www.agfp.de

 

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