Wertvolles Mitgefühl

  

Die Förderung von Mitgefühl steht im Zentrum verschiedener Ansätze zur Gewaltprävention. Dies ist insofern verständlich, als Mitgefühl das Empfinden von Betroffenheit und Bedauern für eine andere Person umfasst und uns in der Regel veranlasst, helfend oder tröstend einzugreifen.

von Jutta Kienbaum    

 

Spontane Anzeichen von Mitgefühl lassen sich in der Regel ab ca. 1,5 Jahren beobachten. Während jüngere Kinder meist noch selber weinen, wenn sie Zeuge des Kummers eines anderen Menschen werden (sogenannte „Gefühlsansteckung“), entwickelt sich nun die Fähigkeit, das eigene Erleben von dem eines anderen abzugrenzen. Diese Grenze ist anfangs noch instabil, was dazu führt, dass z. B. die eigene Mama geholt wird, um ein anderes Kind zu trösten. Mit zunehmender Ich-Entwicklung versteht das Kind jedoch, dass das fragliche Gefühl in der anderen Person, und nicht in ihm selber, entstanden ist (Bischof-Köhler, 2011). Diese Fähigkeit, „Selbst“ und „Andere“ im psychischen Sinne zu unterscheiden, gilt als Voraussetzung für Mitgefühl.

Macht ein Kind jedoch extreme Erfahrungen, z. B. die von körperlicher Misshandlung, gehen diese spontanen Impulse sehr schnell verloren. Beobachtungen an ein bis drei Jahre alten Kindern mit Misshandlungserfahrung ergaben, dass diese nie Mitgefühl zeigten, wenn sie Zeuge des Kummers eines anderen Kindes wurden. Stattdessen reagierten sie mit Angst oder Ärger, manche dieser Kinder attackierten das „Opfer“ sogar physisch (Main & George, 1985).

 

ENTSTEHUNG INTERINDIVIDUELLER UNTERSCHIEDE

Doch auch ohne solche extremen Erfahrungen unterscheiden sich Kinder stark in der Art und Weise, wie sie auf den Kummer anderer reagieren. Die Gründe für diese Unterschiedlichkeit sind vielfältig. In Hinblick auf die Rolle der Eltern wurde heraus-gefunden, dass Kinder, auf deren eigenen Kummer mitfühlend und tröstend reagiert wird, selber auch mit höherer Wahr-scheinlichkeit diese Verhaltensweisen anderen Menschen gegenüber zeigen werden. Förderlich ist zudem, wenn innerhalb der Familie auch „negative“ Emotionen wie Kummer, Angst oder Scham gezeigt werden dürfen.

Ein dritter Bereich betrifft die Reaktion in Situationen, in denen das eigene Kind einem anderen Kummer zufügt. Hier besteht die wirksamste Maßnahme im sogenannten „induktiven Erziehungsverhalten“ (Hoffman, 2000). Gemeint ist damit, dass Eltern im Falle einer „Missetat“ des eigenen Kindes dieses auf die Folgen für das andere Kind aufmerksam machen (z. B. „Schau mal, wie geht es X denn jetzt?“; „Was kann man jetzt tun, damit es X wieder besser geht?“).

Induktionen lenken die kindliche Aufmerksamkeit auf die Konsequenzen seines Handelns für den anderen statt auf die negativen Konsequenzen für es selbst im Falle von Strafe. Strafen demgegenüber rufen beim Kind Unmut und Angst hervor, tragen weder zum kindlichen Verständnis des Leids eines anderen bei, noch versorgen sie es mit der Erfahrung, selbst geholfen zu haben. Zudem setzen sie das Kind letztlich einem strafenden statt einem hilfreichen Modell aus. Strafen haben in der Regel nur eine Folge: Sie führen dazu, dass das Verhalten in Situationen, in denen Entdeckung droht, unterdrückt wird. Moralisches Verhalten wird dadurch zu etwas von außen Aufgezwungenem, das im Gegensatz zu den eigenen Wünschen steht.

 

FÖRDERUNG VON MITGEFÜHL IN DER SCHULE

Kommt auch Lehrerinnen und Lehrern eine bedeutsame Rolle für die Entwicklung des Mitgefühls von Kindern zu? Das soeben beschriebene induktive Erziehungsverhalten lässt sich problemlos in den Kontext der Schule übertragen. Auch hier gibt es immer wieder Situationen, in denen ein Kind einem anderen Leid zufügt, und auch hier ist die Induktion die Methode der Wahl.

Des Weiteren aber findet man im Schulkontext im Zusammenhang mit den Stichworten Friedenserziehung/Gewaltprävention in der Regel Programme, die darauf abzielen, das Verhalten der Kinder zu ändern.  Betrachtet man diese Programme in Hinblick auf  ihre Wirksamkeit bezüglich der Förderung von Mitgefühl, so ergeben die wissenschaftlichen Evaluationen einen vergleichsweise nur geringen Effekt (Kienbaum, 2008). Ein größerer Erfolg könnte vermutlich erzielt werden, wenn auch die Interaktionskompetenzen der Lehrpersonen, und nicht nur die der Kinder, in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken würden.

 

BEDEUTUNG DES VERHALTENS VON LEHRPERSONEN

Ob das alltägliche Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern in einem Zusammenhang zum kindlichen Mitgefühl steht, war eine der Fragestellungen der „Südtiroler Längsschnittstudie zur Entwicklung von Mitgefühl“  (Kienbaum, 2011), die im Jahr 2009 mit 85 fünfjährigen Kindergartenkindern begann. Ein und zwei Jahre später, also in der ersten und zweiten Klasse Grundschule, befragten wir jedes einzelne Kind dazu, wie seine Lehrerin in einer Reihe von Situationen reagiert, in denen das Kind Kum-mer, Angst oder Scham erlebt. Zwei der insgesamt 16 Geschichten lauteten wie folgt: „Ihr sollt ein Gedicht, das ihr auswendig gelernt habt, vor der ganzen Klasse vortragen. Du willst nicht und sagst: „Ich habe Angst davor.“ Was sagt deine Lehrerin dann zu dir?“  „Ihr schreibt in Mathematik einen Test. Du kannst eine Aufgabe nicht und fängst an zu weinen. Was sagt deine Lehrerin dann zu dir?“ - Die spontanen Antworten der Kinder wurden danach ausgewertet, ob das Kind von der Lehrperson Wärme und Unterstützung erfährt (z. B. „Wir machen’s zusammen“) oder nicht („Du musst dich halt das nächste Mal besser vorbereiten“). Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder, die von den Lehrpersonen mehr Wärme und Unterstützung erfahren, mitfühlender sind als solche, deren Lehrer/innen weniger empathisch reagieren. Damit konnte nachgewiesen werden, dass auch eine Erwachsene, die normalerweise nur im Gruppenkontext mit Kindern interagiert, wichtige Impulse für die Entwicklung von Mitgefühl setzen kann.

 

FAZIT

Der Beitrag hat gezeigt, dass die Förderung von Mitgefühl in der Schule auch jenseits von Programmen, die ausschließlich auf die Kompetenzen von Kindern fokussieren, möglich und sinnvoll ist. Die Art und Weise, wie Lehrpersonen sich im Alltag den Schülerinnen und Schülern gegenüber verhalten, hat einen nachhaltigen Einfluss auf deren sozio-emotionale Entwicklung. Dies ist ein Aspekt, der in der Lehrerbildung verstärkt Aufmerksamkeit verdient.

 

Literatur

Bischof-Köhler, D. (2011). Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, Theory of Mind. Stuttgart: Kohlhammer.                 

Hoffman, M. L. (2000). Empathy and moral development: Implications for caring and justice. New York, NY: Cambridge University Press.

Kienbaum, J. (2011). Die Südtiroler Längsschnittstudie zur Entwicklung von Mitgefühl. In: WIR, Kindergarten in Südtirol, 19, S. 14-16.

Kienbaum, J. (2008). Förderung von Mitgefühl im schulischen Kontext. In: B. Gasteiger-Klicpera, H. Julius und C. Klicpera (Hrsg.), Handbuch Sonderpädagogik. Band 3: Sonderpädagogik der sozialen und emotionalen Entwicklung (S. 876-886). Göttingen: Hogrefe.

Main, M. & George, C. (1985). Responses of abused and disadvantaged toddlers to distress in agemates: A study in the day care setting. Developmental Psychology, 21, 407-412.

 

                                                                                         

                                      

Jutta Kienbaum war von 2006 – 2011 Professorin für Psychologie an der Freien Universität Bozen und lehrt seit dem Sommersemester 2011 Entwicklungspsychologie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. www.jutta-kienbaum.de

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