Die Geschützte Werkstatt KIMM

Seit nunmehr acht Jahren wird in der Geschützten Werkstatt KIMM in Kardaun nach der aus Schweden stammenden SIVUS-Methode gearbeitet, bei der soziales Lernen, Kommunikation und Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund stehen.


von Ruth Elisabeth Jamnik

Unter dem Motto „Von dem, was ich kann, durch das, was ich kann, aber noch nicht wage, zu dem, was ich noch nicht kann“ (Walujo & Malmström 1996, S. 161ff.) wird versucht, jeden Einzelnen aktiv in das Werkstattgeschehen einzubeziehen.


DIE SIVUS–METHODE

SIVUS wurde von Walujo und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Schweden entwickelt und bedeutet übersetzt „soziale und individuelle Entwicklung durch gemeinschaftliches Handeln.“
SIVUS ist ein gruppendynamisches Modell, welches auf demokratischen Prinzipien basiert. Die Gruppe ist dabei von zentraler Bedeutung. Sie ist eine Interessensgemeinschaft, da die Gruppenmitglieder durch eine gemeinsame, selbst gewählte Haupt-aktivität miteinander verbunden sind. Das Treffen von Maßnahmen erfolgt immer im Konsens, wobei alle als ernst zu nehmende gleichberechtigte Gesprächspartner/innen miteinbezogen werden. So ist auch ein/e Betreuer/in Teil der Gruppe, der/die – genau genommen – nicht mehr betreut, sondern begleitet und deshalb Begleiter/in genannt wird; der Betreute wird zum Gruppenmitglied. Die Gruppe selbst wird als Ressource gesehen, die bei Schwierigkeiten die nötige Hilfe leisten kann und soll. Das Ziel der SIVUS-Methode ist es, dass Menschen mit Behinderung Selbstständigkeit für ihr eigenes Leben und für ihre Teilhabe in der Gesellschaft erlernen.

ein Wort, das Sinn ergibt

 

Als sich das Team der Geschützten Werkstatt auf den Namen KIMM einigte, wollte man einerseits eine Einladung zum Kommen aussprechen, andererseits aber auch, dass die im Wort enthaltenen Buchstaben Werte ausdrücken, die gleichberechtigt nebeneinander stehen und Eckpfeiler der SIVUS-Methode darstellen.

 

 

K wie Kommunikation

Sich untereinander verständigen und austauschen ist ein lebensnotwendiger Prozess. Er macht es möglich, dass wir mit-einander in Kontakt treten und dass wir unsere Umwelt beeinflussen können. So ist die Werkstatt bestrebt, Kommunikation auf allen Ebenen und auch unter Einbeziehung aller Sinne zu fördern. Dies geschieht durch den Einsatz entsprechender Sprache und Schrift, zum Beispiel die Benutzung von LL-Texten (Leichter Lesen) oder die Anwendung entsprechender Hilfsmittel wie Piktogramme, Buchstabentabellen, Kommunikatoren mit Sprachausgabe, Fotos, Gegenstände, Farben, Gerüche, Geräusche. Wenn nötig, wird mit dem Körper gearbeitet. Grundsätzliches Ziel ist es, so zu kommunizieren, dass Gruppenmitglieder es verstehen können.

I wie Integration

Unter Integration verstehen wir den Eingliederungsprozess von Menschen oder Gruppen in die Gesellschaft. Um diesen Prozess voranzutreiben, sucht die Werkstatt gezielt Kontakte mit der Bevölkerung. Konkret geschieht dies über Projektarbeiten, inte-grative Projekte mit Schule und Kindergarten. Beispiele dazu sind der RadKunstWeg von Bozen nach Blumau, das Buchprojekt SÜDTIROLLER, die Musikwerkstatt mit ihren öffentlichen Auftritten, die Verkaufsstelle für den Verkauf von Produkten, die in den einzelnen Gruppen hergestellt werden, Organisation von und Teilnahme bei verschiedenen Märkten innerhalb und außerhalb der Einrichtung. Schließlich stellt die Geschützte Werkstatt KIMM ihre Räumlichkeiten auch Externen (z. B. der Schule, dem Kindergarten, Vereinen oder Privaten) zur Verfügung.

M wie Mitbestimmung

Diesbezüglich sieht die Werkstatt ihre Aufgabe darin, Prozesse zu initiieren, Bedingungen zu schaffen und Instrumente zu entwickeln, die eine größtmögliche Mitbestimmung von Menschen mit Behinderung auf allen Ebenen des Werkstattlebens ermöglichen. Es soll Mut geschaffen werden, Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen, selbst in die Hand zu nehmen und ein Bewusstseinsprozess entstehen, dass man dadurch nicht nur das eigene Leben, sondern auch die soziale Umwelt mitgestalten kann und so an Lebensqualität gewinnt. Die SIVUS-Methode unterstützt systematisch diese Mitbeteiligung durch entsprechende Instrumente, die ganz natürlich in den Tagesablauf der Werkstatt einfließen und die Möglichkeit bieten, Mitbeteiligung als Inklusionsprozess zu erleben und zu erlernen. Inklusion wird als selbstverständliche und normale Teilhabe eines jeden an allen gesellschaftlichen Prozessen angesehen.

M wie Mensch

Dieser Begriff steht für ein humanistisches, an Ressourcen orientiertes Menschenbild, bei dem jeder einzelne Mensch mit seinen Interessen, Fähigkeiten, Bedürfnissen, Wünschen und Träumen im Vordergrund steht

VERÄNDERUNG DURCH GEMEINSCHAFTLICHES HANDELN

Die Geschützte Werkstatt KIMM in Kardaun ist eine Tageseinrichtung der Bezirksgemeinschaft Salten-Schlern. Die Einrichtung nimmt, dem Landessozialplan entsprechend, Menschen mit vorwiegend geistiger Behinderung auf und bietet diesen einen Arbeits- und Beschäftigungsplatz, der ihren handwerklichen und sozialen Fähigkeiten entspricht, darauf aufbaut und diese durch ganzheitliche individuelle Förderung weiterentwickelt.

In der Geschützten Werkstatt KIMM arbeiten 34 Gruppenmitglieder in 5 verschiedenen Werkstattgruppen (Tischlerei, Kerzen-werkstatt, Bürogruppe, Kunstgruppe und Tongruppe). Zusätzlich sind noch 10 Gruppenmitglieder in den beiden Tagesförder-stätten für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf aufgenommen. Im Gebäude ist auch eine Gruppe von 8 Menschen mit Alkoholerkrankung untergebracht.

Die Gruppenmitglieder werden von Sozialpädagoginnen, Behindertenerzieherinnen, Werkerzieherinnen, Sozialbetreuerinnen und seit Kurzem auch von einer Physiotherapeutin begleitet.

Die SIVUS-Methode findet hier nicht nur in der Arbeit mit den Gruppenmitgliedern Anwendung, sondern kommt auch in der Architektur des Hauses zum Ausdruck: durch große, helle Räume, eine Bildergalerie für die Kunstgruppe im ersten Stock, mehrere kleine Speiseräume (jede Gruppe verfügt über einen eigenen Essraum) und mehrere Teeküchen, die von jeweils zwei Gruppen benützt werden. Bei der Planung des Hauses waren sowohl Gruppenmitglieder als auch Begleiter/innen involviert.

GRUPPENWAHLEN

Kennzeichnend für SIVUS ist, dass nicht mehr das Team, sondern der Mensch mit Behinderung selbst entscheidet, in welcher Gruppe er für ein Jahr arbeiten möchte. Für unsere Gruppenmitglieder eine wichtige Entscheidung, die auch sehr ernst genommen wird.

MORGENRUNDE UND GEMEINSAME TAGESPLANUNG

Jeder Tag beginnt mit der Morgenrunde und einer Tasse Tee oder Kaffee. Dabei werden Fragen gestellt: Wie ist der gestrige Abend verlaufen? Wie geht es dir heute? Diese Einstiegsrunde stellt ein wichtiges pädagogisches Instrument dar, denn erst, wenn ich alles sage, was mir wichtig ist, kann ich mich auf meine Arbeit konzentrieren. Anschließend erfolgt die gemeinsame Tagesplanung, wobei folgende Fragen geklärt werden: Welche Arbeiten fallen heute an? Wer macht was? Wer arbeitet mit wem? Wichtig dabei ist, dass sich alle gleichberechtigt einbringen können. Steht das mündlich vereinbarte Programm fest, geht es darum, dieses festzuhalten. Einige Gruppenmitglieder merken sich den Tagesablauf, andere tragen die Tätigkeiten in einem speziell für sie entworfenen Kalender ein, mit großen Zeilen und Spalten, wieder andere benützen ein Schreibheft. Ist dies zu schwierig, wird ein individueller Stundenplan mit Piktogrammen und Fotos, manchmal auch mit Gegenständen erstellt. Die Gruppenmitglieder können sich dadurch leichter orientieren, denn der Tag bekommt eine klare Struktur. So wird es auch möglich, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, aktiv zu werden, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren und mitzudenken, wobei Selbstsicherheit und Eigenständigkeit gefördert werden.

Die Woche wird mit Hilfe eines Wochenplans strukturiert, auf dem jeder Tag seine eigene Farbe hat. Dort sind auch die Tätigkeiten wie Tische decken, kehren, Pflanzenpflege und anderes vermerkt. Zusätzlich gibt es noch einen Monatsplan.

Die Kommunikation unter den Gruppenmitgliedern spielt bei der Planung der Tätigkeiten eine ganz bedeutende Rolle, denn man muss zum Beispiel den Kollegen fragen, ob er bereit ist zusammenzuarbeiten, oder es ist zu klären, wer welche Arbeitsschritte ausführt. Früher nahm die zentrale Rolle der Betreuer ein. Mit SIVUS wird diesem wichtigen gegenseitigen Austausch bewusst Raum gegeben.

Auch in die Produktion fließen Ideen der Gruppenmitglieder ein. In vielen Gruppen gibt es ein „Ideenbuch“, wo alle Vorschläge der Gruppenmitglieder gesammelt werden. Ist die Gruppe auf der Suche nach neuen Produkten, so wird dieses Buch heran-gezogen und gemeinsam wird ein neues, passendes Produkt ausgewählt.
Am Ende eines Produktionsprozesses wird die gemeinsame Arbeit beurteilt. Wie genau ist gearbeitet worden? Wie war der Arbeitsgang, wie die Zusammenarbeit? Jedes Gruppenmitglied beurteilt seine Arbeit und auch die des Kollegen. Kritik seitens des Kollegen wird dabei sehr ernst genommen. Ziel: Menschen mit Behinderung erhalten Rückmeldung über ihre Arbeit und können dadurch besser ihre Fähigkeiten einschätzen und kennen lernen. Sie müssen dabei auch lernen, mit Kritik umzugehen, beziehungsweise Kritik so zu formulieren, dass sie nicht beleidigt. Ein wichtiger Lernprozess auf den Weg in die Gesellschaft!

TREFFPUNKT

Einmal im Monat treffen sich alle Gruppenmitglieder mit der Strukturleitung, um über ihre Gruppen zu berichten und um zu diskutieren, welche Aktionen, Tätigkeiten oder Weiterbildungsmaßnahmen geplant oder erwünscht sind. Ein gewählter Gruppensprecher trägt dann vor, was seine Gruppe erarbeitet hat. Dabei wird geübt, vor einem größeren Publikum zu sprechen, was einen weiteren wichtigen Schritt Richtung Teilhabe auf Gesellschaftsebene darstellt.

Wir glauben, dass SIVUS Menschen mit und ohne Behinderung in ihrem Selbstvertrauen stärkt und sie schrittweise anlernt, aktiv ihre Umwelt mitzugestalten, und in weiterer Folge befähigt, Entscheidungsprozesse auch auf politischer Ebene zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Dann kann von tatsächlicher Inklusion gesprochen werden.

Literatur


Walujo, S./Malmström, C.: Grundlagen der SIVUS-Methode. München: Ernst Reinhardt Verlag 1996

homepage: http://www.ccsaltosciliar.it/26d2532.html

e-mail: werkstatt.kardaun@bzgsaltenschlern.it

Die Erzieherin und Kommunikationswissenschaftlerin Ruth Elisabeth Jamnik ist Strukturleiterin der Geschützten Werkstatt und Tagesförderstätte KIMM der Bezirksgemeinschaft Salten-Schlern.

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