Bitte innehalten und nicht schweigen!

Auf der Pädagogischen Großtagung der beiden Lehrerverbände ASM und KSL in Bozen und Brixen am 3. September 2012 referierte die Erziehungswissenschaftlerin Regina Klein zum Thema „Bildungsdiskussion im Wandel“. Großen Applaus erntete sie für ihre Schlussworte, die so gar nicht dem entsprechen, was der Zeitgeist vorgibt, wohl aber dem, was viele denken.                                                                                                                              

von Rosa Monika Laimer

Wozu soll man nicht schweigen? Regina Klein gab die Antwort – so deutlich und klar, wie man sie selten hört. Keiner Institution und keiner Organisation verpflichtet, zeigte sie die Hintergründe auf, die unsere Schulwelt bewegen und beleuchtete aktuelle Bildungstendenzen.  Sie definierte „Bildung“ als einen zutiefst gesellschaftlichen Begriff, der ständig hinterfragt und verändert wird, und wies darauf hin, dass der ganze, damit zusammenhängende Fragenkomplex heute evidenzbasiert (d. h. begründet und auf Beweismaterial gestützt) beantwortet wird. Eine evidenzbasierte Bildungsforschung verfolgt (übrigens in Analogie zum medizinischen Bereich) die Bereitstellung von systemrelevanten Standards und Steuerungswissen, das vorgibt, die Zukunft kontrollieren zu können. „Bezugspunkt“, so Regina Klein, „ist immer der Markt.“

Schneller, höher, weiter, besser…

Die Referentin hob hervor, dass sich die Europäische Union das Ziel gesetzt habe, Europa zum leistungsfähigsten Wirtschafts-raum zu entwickeln. Dadurch bestehe ein Zwang zur Leistungssteigerung und zur Bildungsoptimierung. Internationaler Wett-kampf setze sich durch, Bildungsräume würden zu Wirtschaftsräumen, in denen nach neoliberalistischen Vorgaben alle Bereiche dem freien Handel unterlägen. Das habe, wie Regina Klein betont, zur Folge, dass Schulkinder als Humankapital betrachtet würden, in das investiert werden müsse, um das Wirtschaftswachstum zu generieren. Interessanterweise geschehe dies momentan immer weniger auf Kosten des Staates, der sich zunehmend zurückziehe. So habe bereits Helmuth Kohl davon gesprochen, dass intelligente Kinder der wahre Rohstoff in einem rohstoffarmen Land seien.

Humanressourcen seien all das, was den Menschen ausmache. Sie gelte es aufzubauen, zu erhalten und zu steigern. Das beginne mit der frühkindlichen Förderung und ende beim lebenslangen Lernen. Verdichtung, Beschleunigung und Verlänge-rung des Lernens seien Ausdruck der Strategien, die Eltern gleichermaßen wie Bildungsinstitutionen anwenden. „Die Folge davon“, so Regina Klein, „ist die Akademisierung des Berufes der Kindergärtner/innen, die Fünftagewoche anstelle der Sechs-Tage-Woche und die Reduzierung der Oberschuljahre. Auch Wiederholungen sind nicht mehr tragbar.“ Mitarbeiter/innen von Schulen hätten in Eigenverantwortung eine Organisationskultur zu entwickeln, und mit Hilfe von Mentoring würden Arbeits-gruppen zu Steuergruppen umfunktioniert. Mittlerweile gebe es sogar Schulentwicklungsberater/innen nebst Controlling.

Bildungsmanager/in statt Lehrer/in

Für die Referentin hat das zur Folge, dass Lehrpersonen zu Bildungsmanagerinnen und -managern werden. Arbeitsdichte, Klassengrößen und Stundenanzahl steigen mit ständig anwachsenden Zusatzaufgaben und schließlich gilt es auch noch, basale Erziehungsaufgaben zu übernehmen, die früher in den Bereich der Familie fielen, z. B. die Förderung von Sozial- und Medienkompetenzen. Eine Überforderung scheint vorprogrammiert. Da bleibe wenig Zeit für das Kerngeschäft, nämlich: Lerninhalte methodisch didaktisch sinnvoll zu vermitteln. Zusätzlich sei das eigentliche Lehrerhandeln geprägt von Heraus-forderungen, z. B. von der Tatsache, dass das Tun einer Lehrperson in dem Augenblick des Tuns schon überholt sei. So heiße es in der Postmoderne, sich als Lehrpersonen und als aktiv Lernende gleichzeitig zu verstehen.

Kompetenzen als Wegweiser

Was kann da Orientierung bieten? Es sind die Kompetenzen. „Der Kompetenzbegriff“, so Regina Klein, „war bis 1970 eher unbekannt, heute fehlt er in keiner Unterlage. Kompetenz wird erworben, entwickelt, gemessen, bewertet, beschrieben, standardisiert, erhoben, diagnostiziert und lebenslang gemanagt.“ Auch wenn der Begriff ohne semantische Schärfe sei sowie wissenschaftlich und umgangssprachlich nicht genau definiert werden könne, so lasse sich doch sagen, dass Kompetenzen eng an die Person gekoppelt sind, Fertigkeiten und Erfahrungen vernetzen und auf Selbstständigkeit zielen. Als Schlüsselkompetenz umriss Regina Klein mit dem Begriff „employability“ Bildung als Anpassungsleistung an ökonomische Erfordernisse. Und eben diese Schlüsselkompetenz müsse vorbereiten auf das Risiko Zukunft, für die heute nur mehr eines sicher scheine: die Ungewiss-heit in einem völlig entfesselten Markt. Das ökonomische Bildungsziel heiße Wettbewerbs-, Arbeits- und Beschäftigungsfähig-keit. Ziel sei ein perfekt funktionierender Arbeitskörper.

Das Ansteigen der Diagnosen unter Schülerinnen und Schülern – von Arbeitsverweigerung bis hin zu ADHS – sieht Regina Klein in direktem Zusammenhang mit dem oben Genannten. Und mit den Diagnosen steige die Häufigkeit der Verschreibung von Medikamenten. So sei die Einnahme von Ritalin weltweit um 27 % in die Höhe geschnellt, nicht zu vergessen auch der krankheitsunabhängige Gebrauch des Medikaments zur Steigerung der Arbeitsleistung.

Ein Innehalten lässt auf sich warten

Das eigentlich Menschliche werde wegrationalisiert, (Lern-)Umwege und Unfälle ebenso ausgegrenzt wie die pädagogische Begegnung. Der Bildungsraum werde verschwindend klein. „Doch Bildung“, so Regina Klein, „braucht Zeit, Zeit – in der das Selbst sich fasst.“

Gegenentwürfe zur momentanen Situation sind noch offen. Die Referentin hofft auf eine Protestbewegung, ähnlich dem Rückzug ins Private nach der Zeit der Industriellen Revolution – auf eine Entschleunigung und eine Besinnung auf das Wesentliche, wohl auf den Grundlagen einer Bildungspolitik, die nicht in erster Linie den Marktinteressen, sondern dem Menschen verpflichtet ist.

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