Jedes Kind bereichert die LerngruppeEine inklusive Schule ist - kurz gesagt - nichts anderes als eine Schule für alle Kinder. Insofern ist die Forderung nach inklusiver Schul-entwicklung keine neue Herausforderung, da immer mehr Schulen die Heterogenität ihrer Schüler/innen bewusst wahrnehmen und darauf mit Bildungsangeboten unterschiedlichen Niveaus reagieren.
von Karin Dietl
Lara und Johannes schieben ihre Freundin Mara, die mit ihren 10 Jahren nicht gehen und sprechen kann, im Kinderwagen über den Pausenhof. Diese Woche sind sie an der Reihe, diesen Dienst auszuführen. Am Ende der Pause schieben sie Mara in das Schulgebäude und warten, bis die Mitarbeiterin für Integration das Mädchen in den Gesprächskreis trägt. Dort findet eine Abstimmung darüber statt, wohin der Herbstausflug gehen soll. Mara hat wie alle anderen auch ein Stimmrecht, und weil sie nicht reden kann, spricht die Mitarbeiterin für Integration für sie. Danach begeben sich alle an ihre Arbeit. Auch Mara muss arbeiten. Die Mitarbeiterin für Integration führt mit Mara im Stammgruppenraum Turnübungen auf der Matte aus. Das ist ihr gar nicht recht, sie rebelliert lautstark. Die anderen Kinder lassen sich davon nicht ablenken und arbeiten an ihren täglichen Übungen weiter. Andreas geht kurz zu den beiden hin und flüstert Mara zu: „Mach dir nichts draus, ich mag heut auch nicht so gern meine Kopfrechenübungen machen. Halt noch etwas durch, dann ist es auch schon vorbei und ich habe inzwischen meine Rechnungen erledigt.“
Szenenwechsel Alle in der Gruppe wissen, dass Simon große Schwierigkeiten hat, Texte leserlich zu schreiben oder einfache Rechenaufgaben zu bewältigen. Doch beim Malen sind alle begeistert von seinen künstlerischen Fähigkeiten. Denn Simon malt wie kein anderer und bringt sein Lieblingsmotiv höchst professionell zu Papier: Nadelbäume vor Holzzäunen und eine Bergkulisse dahinter. Und im Sportunterricht ist er beim Laufen immer der Schnellste. Zurück in der Klasse setzt er sich nicht sonderlich motiviert an seine Übungen. Doch er bemüht sich und strengt sich an, da er genau weiß, dass er sich nach der mühsamen Arbeit seinem Kunstwerk im Malatelier widmen kann. Diesmal fordert er sich heraus und zeichnet eine Ziegenherde zwischen seine Nadelbäume.
Vielfalt leben Unser Unterricht ist nach reformpädagogischen Konzepten ausgerichtet. Jedes Kind erfährt in der jahrgangsübergreifenden Stammgruppe die Rolle des „Lehrlings“, des „Gesellen“ und des „Meisters“. Die Vielfalt wird bewusst gelebt. Somit werden individuelle Lernchancen und Möglichkeiten für die Persönlichkeitsentwicklung eines jeden Kindes geboten. Die Schüler/innen fühlen sich so angenommen, wie sie sind. In dieser Klasse werden Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung, Intelligenzminderung, verschiedenen Lernstörungen und natürlich auch Kinder ohne Funktionsdiagnosen gemeinsam unterrichtet. Gemeinsam Verantwortung tragen Die Lehrpersonen, die der Lerngruppe aufgrund der Diagnosen als zusätzliche Ressource zugewiesen sind, übernehmen im Team die verschiedensten Fachbereiche, alle Lehrpersonen fühlen sich für alle Kinder gleichermaßen verantwortlich. Die Gäste, die in unseren jahrgangsübergreifenden Stammgruppen hospitieren, können selten erkennen, welche Kinder welcher Jahrgangsstufe angehören oder welche Kinder eine Lernbeeinträchtigung haben. Wir Lehrpersonen teilen uns die Aufgaben gleichermaßen auf, und jedes Kind wird mit seinen besonderen Fähigkeiten wahrgenommen und nicht mit seinen besonderen Defiziten gesehen und beobachtet. Jedes Kind hat seinen Platz in der Stammgruppe. Jedes Kind bearbeitet sein eigenes Arbeitspensum und somit haben alle in der Gruppe ein individuell zugeschnittenes Lernprogramm. Jede/r Einzelne von uns ist einzigartig und jede/r von uns ist anders, braucht in einem Bereich mehr Unterstützung und Zeit oder kann in einem bestimmten Bereich mehr gefordert werden, weil dort noch mehr Potenzial steckt. Bei den wöchentlichen Schulfeiern präsentieren die Kinder ihre interessenbezogenen Beiträge. So tritt ein Junge mit Dyskalkulie und LRS mit Stolz auf und präsentiert sein persönliches Thema über die Hirsche, das er gemeinsam mit seinen Freunden erarbeitet hat. Sie haben ihm beim Recherchieren und Festhalten der Antworten auf ihre selbst gestellten Fragen geholfen. Beim Präsentieren sind sie auf seine Hilfe angewiesen, da sie ziemlich leise sprechen und nicht so selbstbewusst auftreten können wie er. So ergänzen sich die Kinder mit ihren Fähigkeiten und jeder weiß, was der andere besonders gut kann. In einer altersgemischten Gruppe kann ein Kind zum Beispiel in der zweiten oder dritten Jahrgangstufe einem Erstklässler auch mal was erklären und erfährt, dass es auch in die Rolle des Experten schlüpfen kann. Das Selbstwertgefühl steigt, da nicht die Schwächen im Mittelpunkt stehen. Jede/r ist Teil der Gemeinschaft In unserem Unterricht gibt es keine Leistungs- oder Lerngruppen, die auf einer gemeinsamen Niveaustufe arbeiten. Im Vordergrund steht der individuelle Leistungsfortschritt, der gefördert und gefordert wird und zugleich steht die Gruppe, die Gemeinschaft, im Mittelpunkt. Hier bringt sich jeder ein und erfährt, wie wertvoll sein Beitrag ist. Peter aus der dritten Klasse zum Beispiel arbeitet mit Magdalena zusammen. Sie ist aus der ersten Jahrgangsstufe und kann weder lesen noch schreiben. Beide erarbeiten gerade das Thema „Die fünf Sinne“. Er weiß, dass er von seiner Lernpartnerin kaum Hilfe erwarten kann. Darum liest er ihr geduldig aus dem Sachbuch vor, das sie gemeinsam in der Schulbibliothek geholt haben. Das Mädchen hört kaum zu, da es mit dem Sachtext überfordert ist. Peter gibt ihm eine kleine Arbeit: Er zeichnet die Sinnesorgane auf ein Blatt Papier und bittet seine Lernpartnerin, die Zeichnungen anzumalen. Er liest weiter und verfasst anschließend mit seinen Worten eigene Texte. Immer wieder schaut er zu Magdalena hin, die neben ihm eifrig malt. Bei der Präsentation am nächsten Tag fordert er seine Lernpartnerin auf, die Bilder zu zeigen, während er seine Erkenntnisse den anderen preisgibt. Am Ende freut sich der Junge mit dem Mädchen über die Arbeit, die sie geleistet haben. Es geht um jeden Einzelnen, jedes Kind benötigt eine spezielle Begleitung, hat Bedürfnisse und Chancen. Alle befinden sich im Stammgruppenraum und niemand wird aus dem Raum in den Ausweichraum „verbannt“. Denn jeder Mensch ist einzigartig. Jeder hat seine besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Schule hat den gesetzlichen Auftrag, individualisierende Maßnahmen für alle Kinder und nicht nur für Kinder mit Funktionsdiagnose zu planen und umzusetzen. Es ist daher passender, dass man von einer inklusiven und nicht von einer integrativen Schule spricht. Alle Kinder erleben sich als Teil der Gemeinschaft, in der sie leben, jedes einzelne Kind bereichert auf seine Weise die Lerngruppe.
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PRAXIS
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