Mit Kopf, Herz und Hand
Vielseitiges Lernen ist der Berufsschule ein besonders wichtiges Anliegen. Dass es hierbei sogar möglich ist, Begabungen auf neue Art zu entdecken, zeigen viele positive Erfahrungen. Auch wenn der Weg ins Erwachsenenleben oftmals nicht frei von Problemen sein kann. von Marlene Kranebitter Dass er Mechaniker werden wollte, das wusste er schon im Kindergarten und nichts hat ihn von diesem Wunsch abbringen können. Nach der Mittelschule besuchte mein Sohn Max die Berufsgrundstufe für Metall- und Elektrotechnik und kümmerte sich um ein Schülerpraktikum bei BMW München. Seit Kurzem hat er eine Lehrstelle als KFZ-Techniker in einem Betrieb, dem die Ausbildung von jungen Menschen ein echtes Anliegen ist. Wegen seiner Rechtschreibstörung schämt er sich nicht, hat es eigentlich nie getan. Als er den schulischen Druck nicht mehr so stark fühlte, gab es sogar bessere Deutschnoten. Ob er denn wirklich nur in die Berufsschule gehen wolle und was ich denn als Mutter dazu sagen würde? Das Kopfschütteln meiner Bekannten, vorsichtig und zaghaft, fast schon besorgt, nahm ich gelassen. Ich arbeite nämlich seit fast 25 Jahren an der Berufsschule und weiß um unser Potenzial. Zahlreiche Anrufe besorgter Eltern Am Berufsbildungszentrum Bruneck häuften sich in den letzten Tagen die Anrufe besorgter Eltern. Wenige Wochen nach Schulbeginn gibt es eine Reihe Jugendliche, die die Schule wechseln möchten. Zu schwer sei sie, die Oberschule, die sie gewählt hätten, viel zu anstrengend. Und jetzt, nach einem knappen Monat, sei klar, dass sie dort keine Chance haben würden. Zu viel Theorie, viel zu viel Lernstoff und auf Schwächen werde nicht so sehr Rücksicht genommen. Die Berufsschule habe den Ruf, „leichter“ zu sein, zumindest was die allgemein bildenden Fächer angeht. Manchmal wechselt man auch dorthin, wenn sonst gar nichts mehr geht. So hat ein Vater den Schulwechsel seines Sohnes kommentiert. Dabei wäre es in der heutigen Zeit schon „gescheiter, die Maturaprüfung abzulegen, oder etwa nicht?“ Über 1500 Schülerinnen und Schüler besuchen im heurigen Schuljahr das Berufsbildungszentrum Bruneck. Es gibt 50 Vollzeitklassen, 29 Lehrlingsklassen und über 190 Lehrpersonen. 230 Jugendliche haben Anrecht auf mehr Unterstützung aufgrund einer Funktionsdiagnose (FD) oder einer Funktionsbeschreibung (FB). Ihnen stehen 18 Integrationslehrpersonen und zwei Mitarbeiterinnen für Integration zu Verfügung.
Begabungen – auf neue Art entdeckt Im Grunde ist es mit den Bereichen Integration und Inklusion wie an jeder anderen Schule auch, lediglich mit dem kleinen Unterschied, dass die jungen Menschen in den Praxisfächern ihre Begabungen auf eine neue Weise entdecken und entfalten können. Erfolgserlebnisse sind hier fast vorprogrammiert, weil der Praxisunterricht oft entspannter ist und den Fokus unweigerlich auf die Stärken der Jugendlichen legt. Im Praxisunterricht werden Integrationslehrpersonen selten eingesetzt. 22 Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund besuchen die Deutschkurse am Sprachenzentrum und fehlen dann natürlich während mancher Unterrichtstunden. Am Berufsbildungszentrum Bruneck und nicht nur dort legt man Wert darauf, dass diese jungen Menschen im Praxisunterricht anwesend sein können. Lernen durch praktisches Tun erleichtert die Integration in die Schule und auch in die Klasse. Voraussetzung ist natürlich, dass ein gewisses Sprachverständnis gegeben ist.
Verborgene Schwächen Hin und wieder gibt es Familien, die nicht wollen, dass der Funktionsbeschreibung Rechnung getragen wird. „Mein Sohn möchte nicht als Loser abgestempelt werden“, hat eine Mutter unlängst gemeint. Ja, Stützunterricht hätte er schon bekommen, in der Grundschule schon und dann in der Mittelschule auch. Jetzt möchte er nicht mehr auffallen. Lieber nimmt er ein paar negative Noten in Kauf. Irgendwie würde es schon gehen, vielleicht könnte er ja indirekt Hilfe bekommen. Dass Integrations-lehrpersonen für die gesamte Klasse da sind, ist hinlänglich bekannt. Dass sie oft ganz unauffällig unterstützen sollen, ebenso. Immer wieder werden Schülerinnen und Schüler auch erst nach ihrem Einstieg in die Berufsschule zum Schulpsychologischen Dienst geschickt. Offen bleibt die Frage, ob die Schwäche bis zu diesem Zeitpunkt niemandem aufgefallen ist.
Vielseitigkeit Heiß diskutiert ist natürlich die Tatsache, in welchem Ausmaß Inklusion gelebt werden kann. Manchmal empfiehlt es sich, in kleineren Gruppen und außerhalb der Klasse zu lernen. Komplexere Inhalte können so einfach besser erklärt werden und die Jugendlichen schämen sich nicht, ein drittes und vielleicht gar ein viertes Mal nachzufragen. Konzentrationsprobleme sind weniger drückend, und „verhaltensauffällige“ Schülerinnen und Schüler erhalten so für eine kurze Zeit etwas mehr Aufmerksamkeit. Ob es denn nicht schwer sei, an der Berufsschule zu unterrichten, werde ich hin und wieder gefragt. Schließlich gebe es da ja so viele schwache und auch schwierige Schüler. Wir sind offenbar – immer noch – eine Gesellschaft, die die kognitive Intelligenz in den Vordergrund stellt. Es gab Zeiten, da stand auf dem Mittelschulzeugnis „für einen Handwerksberuf geeignet“, wenn die Noten eher tief waren, und offensichtlich meint man auch jetzt immer noch, dass es sehr viel einfacher sei, einen Handwerksberuf zu ergreifen als die Maturaprüfung abzulegen. Wenn man aber bedenkt, wie rasant die Entwicklung im technischen Bereich ist, bekommt man eine Ahnung davon, wie flexibel junge Handwerker im Grunde sein müssen. Und was die schwierigen Schüler angeht, so dürften sie nicht schwieriger sein als an anderen Schulen. Manchmal haben junge Menschen im privaten und sozialen Umfeld nicht den nötigen Nährboden, um sich entwickeln zu können, um sich selbst finden zu dürfen. Manchmal müssen Jugendliche viel zu früh erwachsen sein, und das ist schwierig, wenn man fünfzehn ist.
… ins rechte Licht gerückt Zum Schluss noch eine Erfolgsmeldung: „Tourismus trifft Landwirtschaft“ heißt das jüngste Projekt der Hotelfachschule Bruneck und der Landwirtschaftschule Dietenheim. Es steht unter dem Motto „dire – fare – gustare“ und es geht um sehr viel mehr als ein bloßes Kennenlernen zweier Schulen. Heimische Produkte gemeinsam zu verarbeiten und daraus zauberhafte Gerichte zu kreieren, den Erfolg sogar im wahrsten Sinn des Wortes auskosten zu können, da ging es ganz bestimmt nicht um irgend-welche Schwächen, sondern schlichtweg darum, Begabungen ins rechte Licht zu rücken.
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PRAXIS
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