Hörminderung - eine Chance für alle?
Auch in unserer immer stärker visuell und medial orientierten Gesellschaft vollzieht sich das schulische Lernen während mehr als der Hälfte der Zeit über das Hören. Die gesprochene Sprache hat einen sehr wichtigen Stellenwert im Unterricht. Aber nur das, was gehört worden ist, kann auch verstanden werden.
von Monika Verdoes-Spinell
Eine rezente Studie an der Universität Oldenburg konnte nachweisen, dass knapp 20% der Studierenden von Beeinträchtigungen im Sprachverstehen betroffen sind. Wenn also unter den Studentinnen und Studenten an den Universitäten ein so beträchtlicher Anteil Schwierigkeiten im Sprachverstehen hat, kann man davon ausgehen, dass in Kindergarten und Pflichtschule der Anteil noch größer ist. Je jünger die Kinder nämlich sind, desto mehr sind sie bei Verstehensleistungen von einer optimalen Signalqualität abhängig.
Gutes Sprachverstehen ermöglichen
Nach den Rahmenbedingungen für gutes Sprachverstehen fragen sich die Bildungseinrichtungen immer noch viel zu selten. Wer sich nicht selbst in einer besonderen Problemlage befindet, hat auch Schwierigkeiten, sich das vorzustellen. Die akustischen Bedingungen in den Klassenräumen mit durchwegs zu hohen Nachhallzeiten und konstanten Störgeräuschen sind für das Lernen vielfach nicht günstig. Durch die veränderten Arbeitsweisen des offenen Unterrichtes mit Gruppenarbeiten oder Projektarbeiten hat sich das Lärmpotenzial von Lehr- und Lernsituationen zusätzlich erhöht. Mehrere Studien belegen die Tatsache, dass ungünstige akustische Bedingungen das Lernen, aber auch das soziale Leben in einer Klasse negativ beeinflussen. Die Verbesserung der Zuhörbedingungen durch eine optimierte Raumakustik steigert hingegen das Wohlbefinden und die Lernleistung aller Schüler/innen und entlastet die Lehrer/innen.
Zuhörförderung
Aber auch noch weitere Bedürfnisse der Schüler/innen mit einer Hörminderung tragen zu einer allgemeinen Verbesserung der Unterrichtsqualität bei. Das Zuhören ist eine unerlässliche Voraussetzung für gelingende Kommunikation. Jedoch zeigen entsprechende Studien, dass sich die Fähigkeiten des konzentrierten Hörens rückläufig entwickeln. Kinder lernen immer mehr das Weghören, um sich vor der Reizfülle in ihrem Alltag zu schützen. Die scheinbar beiläufige Fähigkeit des Zuhörens bedarf daher zunehmend der bewussten Förderung. Dabei geht es nicht nur darum, die Wörter und Sätze des Gesprächspartners zu verstehen, sondern auch dessen Intention. Das setzt eine ganz bewusste Einstellung voraus, nämlich genau verstehen zu wollen, was der Gesprächspartner meint. Diese kommunikative Grundhaltung gilt es (nicht nur) bei hörgeschädigten Kindern schon früh zu entwickeln, damit sie sich nicht mit Halbverstandenem abfinden.
Zuhör- und Gesprächskompetenz
Die Förderung einer guten Gesprächskultur ist eine weitere Voraussetzung für gelingende Kommunikation. Das konsequente Respektieren der Gesprächsregeln ist sowohl im Unterrichtsgespräch als auch bei Gesprächen in Gruppenarbeiten unerlässlich, will man Schülern/innen mit einer Hörminderung echte Teilhabe ermöglichen und ihnen die häufigen Frustrationen wegen der fragmentarischen Wahrnehmung ersparen. Dabei gilt es, immer wieder genau zu beobachten und zu reflektieren, ob es auch gelingt, authentische Gespräche, in denen es echten Austausch von Gedanken, Meinungen und Gefühlen gibt, zu realisieren. Ein starkes Mitteilungsbedürfnis hindert manche Kinder (z. B. im Morgenkreis) nämlich oft am Zuhören mit der Folge einer Einwegkommunikation. Begriffsklärungen und das Erarbeiten neuer Inhalte sind ebenfalls nur im echten gedanklichen Aus-tausch mit den Kindern unmissverständlich möglich. Dabei sollen die Gesprächsbeiträge der Mitschüler/innen durch deutliches und klares Sprechen auch für die auditiv benachteiligten Schüler/innen und für jene mit einer anderen Muttersprache verständlich sein.
Reflektierte Sprachdidaktik
Eine spezifische, besonders reflektierte Sprachdidaktik, die über den Weg des gelenkten selbstentdeckenden Lernens der Sprachformen mit entsprechend funktioneller Sprachreflexion die Grammatikkompetenz der Schüler/innen entwickelt (wie der Muttersprachlich Reflektierende Ansatz), macht auch gut hörenden Schülerinnen und Schülern mehr Spaß und erleichtert Kindern mit einer anderen Muttersprache die Einsicht in die Regeln der Bildungssprache.
Vermehrte Visualisierung der Inhalte und häufigere Wiederholungen gewähren nicht nur Schülerinnen und Schülern mit einer Hörminderung mehr Barrierefreiheit, sondern erleichtern auch anderen Schülerinnen und Schülern, z. B. jenen mit einer anderen Muttersprache oder mit Teilleistungsstörungen, die Informationsaufnahme.
Sozial angemessene Lernsituationen
Angemessene Lernformen für Kinder mit einer Hörminderung sind Partnerarbeiten, Unterricht in Kleingruppen und immer wieder individuelle Erklärungen, wobei Betroffene und Nicht-Betroffene über die unsichtbare Behinderung, die Hörschädigung, und deren Auswirkungen entsprechend informiert sein sollen. Dies stärkt einerseits das Selbstbewusstsein der Betroffenen und bringt langfristig auch ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse dieser speziellen Gruppe in der hörenden Gesellschaft mit sich.
Wenn die Sprechfertigkeiten der betreffenden Schüler/innen unauffällig sind, besteht leicht die Gefahr, dass die Auswirkungen einer Hörminderung bagatellisiert werden. Leider wird diese in manchen Fällen durch Verdrängen und Verstecktaktiken noch verstärkt. Argumente wie „Die Schülerin ist doch ganz ruhig und unauffällig, sie will auch gar keine Sonderrolle“ zeugen von mangelnder Kenntnis der Bedürfnisse und oberflächlicher Beobachtung, die dazu führen, dass Lehrpersonen Unsicherheit und mangelndes Selbstbewusstsein der Schülerin mit Anpassung verwechseln. Von den häufig unauffälligen Sprechfertigkeiten dieser Schüler/innen darf nicht auf entsprechend gutes akustisches Verstehen geschlossen werden. Lernende mit einer Hörminderung müssen ständig hohe Konzentrations-, Kombinations- und Anpassungsleistungen erbringen, um dem Tempo und Inhalt von Unterrichtsgesprächen und Diskussionen folgen zu können. Zudem sind sie in den freien Gruppensituationen häufig von der Kommunikation ausgeschlossen, da die Verständigung unter den gut hörenden Mitschülern und Mitschülern zu schnell und nicht ausdrücklich genug erfolgt.
Die „Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten“ schreibt in ihrem Positionspapier: „Inklusion beinhaltet für uns den Respekt und die Anerkennung unserer speziellen Bedürfnisse.“ Dies ist jedoch nur möglich, wenn gut hörende Lehrer/innen sich mit der Problematik auseinandersetzen und sich entsprechende Fachkenntnisse aneignen.
Literatur
Corleis B./Klee A./Schulze G. C. (2012): Wege aus dem leisen Lärm – Die Hörsensible Universität Oldenburg. In: Hörpäd 3/2012, S. 111-114
Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten (2010): Inklusion in der Bildung. Gemeinsames Positionspapier der Verbände der Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten-Selbsthilfe und Fachverbände
Jacobs, G./Schulze G. C. u. a. (2012): Grundlagenforschung zur Erfassung der Hörfähigkeit von Studierenden. In: Empirische Sonderpädagogik 2/2012
Imhof, M. & Bernius, V. (Hrsg.) (2010): Zuhörkompetenz in Schule und Unterricht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Elternverband hörgeschädigter Kinder: www.ehk.it
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Monika Verdoes-Spinell ist Fachpsychologin und Konsulentin für den Unterricht und die Erziehung Hörgeschädigter |