Integration versus Inklusion

Wichtige Etappen in 35 Jahren Entwicklung im Integrationsbereich an Südtiroler Kindergärten und Schulen

von Edith Brugger-Paggi

Die Einführung der Einheitsmittelschule in Italien per Gesetz im fernen Jahr 1962, also vor genau 50 Jahren, kann bereits als Grundstein für die spätere Entwicklung einer inklusiven Schule angesehen werden. Durch diese Maßnahme wurde allen Schülern und Schülerinnen, mit Ausnahme jener mit einer Beeinträchtigung, der Zugang zur Mittelschule eröffnet. Dies erhöhte in beachtlichem Maße die Heterogenität in den Klassen, wenn man dies zur damaligen Zeit auch nicht so wahrgenommen hat. Man hatte immer noch das Bild der Lateinmittelschule im Hinterkopf. Dies schlug sich auch in den hohen Repetentenquoten nieder, die in den 1. Klassen bis zu 30 % ausmachten. Die Schüler/innen mit einer Beeinträchtigung besuchten in Italien weiterhin die wenigen Sonderschulen oder wurden in Südtirol ins nahe deutschsprachige Ausland gebracht. Manche Schüler/-innen besuchten auch keine Mittelschule und blieben bis zur Erfüllung der Schulpflicht in den Sonderklassen der Grundschule hängen. Die konsequente Weiterentwicklung einer Schule für alle hatte zur Folge, dass auch diese Gruppe von Schülern und Schülerinnen in das allgemeine Bildungssystem integriert wurde (G. Nr. 517/1977). Schulen und Schulverwaltung traf diese Neuerung völlig unvorbereitet, und in Südtirol versuchte man auch vorerst, in den Mittelschulen durch den Schulversuch der „Kooperativen Klassen“ die vom Gesetz vorgesehene Integration zu umgehen. Dies umso mehr, als die deutschsprachigen Nachbarstaaten noch an ihren Sonderschulen festhielten, überzeugt davon, dass diese die beste Förderung für Schüler/innen mit einer Beeinträchtigung darstellten. Doch langsam wurden immer mehr „integrative Klassen“ in den Mittelschulen errichtet und auch in den Grundschulen hielten sich nur mehr vereinzelte Sonderklassen.

Überall dort, wo die Integration von Kindern, Schülern sowie Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung ernst genommen wurde, hat sie ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf Unterrichtsgestaltung, Einstellung der Lehrpersonen zum Umgang mit Unterschieden, Wertschätzung der Vielfalt zur Folge gehabt. Lernende mit einer Beeinträchtigung haben auf Mängel aufmerksam gemacht, die an der „Normalschule“ bestanden. Somit hat die Integration einen Entwicklungsprozess in Gang gebracht, der für alle Schüler/innen Vorteile gebracht hat. Ludwig Otto Roser, ein Neuropsychiater aus Florenz, der in den 70er Jahren zu den Promotoren der Integration in Kindergarten und Schule in Italien zu zählen ist, hat das auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: „Wo die Integration nicht Widerstand, sondern berufliches Interesse auslöst, wird die Schule kindgerechter und da haben endlich die Behinderten etwas für die so genannten Normalen getan.“ (Roser, L .O., 1998)

Von der Integration zur Inklusion

In der Folge hat sich die Heterogenität der Lerngruppe immer stärker ausdifferenziert, nicht zuletzt durch eine vermehrte Anwesenheit von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund. Dies, aber auch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse über individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse haben neue Perspektiven eröffnet. Von einer Sichtweise, die in erster Linie besondere Maßnahmen für die Förderung von Kindern, Schülern und Schülerinnen mit einer Beeinträchtigung vorsah, ging man langsam über zu einer Sichtweise, die allen Kindern, Schülern und Schülerinnen individuelle Bildungs-bedürfnisse zuerkannte. Erste Ansätze in diese Richtung finden wir im Landesgesetz zur Autonomie der Schulen (L.G. Nr.12/2000). Es geht vom Grundsatz aus, dass alle Schüler und Schülerinnen unterschiedliche Fähigkeiten und Bedürfnisse haben und dass es Aufgabe der Schule ist, ihre Angebote so zu gestalten, dass dieser Verschiedenheit Rechnung getragen wird.

Auch wenn man hier noch nicht von Inklusion spricht, so ist der inklusive Gedanke doch durch dieses Gesetz grundgelegt. Im Mittelpunkt steht, was der Schüler/die Schülerin kann, wo seine/ihre Stärken und Fähigkeiten liegen. Dieser ressourcen-orientierte Blick geht davon aus, dass alle Kinder Begabungen haben, es liegt an den Lehrpersonen, diese zu erkennen, und an den Schulen, aber auch an Politik und Schulverwaltung, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, was sicher nicht immer leicht ist.

Weitergeführt wird dieser Ansatz im so genannten Bildungsgesetz  (L.G. Nr. 5/2008) und in den Rahmenrichtlinien der verschiedenen Bildungsstufen:

„Sie (die Unterstufe) führt den von der Familie und dem Kindergarten eingeschlagenen Bildungsweg fort, fördert die Entfaltung der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler und geht dabei auf individuelle Stärken und Unterschiede ein. Sie schätzt Vielfalt als Wert. (…) Die Schule baut durch einen auf dem Grundgedanken der Inklusion beruhenden Unterricht die Haltung auf, Unterschiede der Personen und Kulturen als Bereicherung zu verstehen und dem Anderssein mit Respekt und Offenheit zu begegnen.“ (RRL Unterstufe, 2009, S. 17)

Von einer Zwei-Gruppen Theorie (behindert – nicht behindert), die dem Integrationsgedanken zugrunde liegt, geht man über zu einer Sichtweise, die allen Schülern und Schülerinnen das Recht auf individuelle Maßnahmen zuspricht. Hier wird erstmals der Begriff der inklusiven Bildung im Sinne einer Bildung für alle unter Anerkennung der individuellen Unterschiede als grundlegende Norm unseres Bildungssystems und unseres Bildungsverständnisses festgelegt. Wenn in diesem Zusammenhang von Kindern, Schülern und Schülerinnen gesprochen wird, so sind damit alle gemeint, auch jene mit einer Beeinträchtigung oder solche mit Migrationshintergrund, mit Lernstörungen oder etwa mit einer Hochbegabung.

Inklusive Bildung

Gelingen kann dies nur, wenn der Bildungsprozess gekennzeichnet ist durch vielfältige Formen von Individualisierung und Differenzierung der Angebote.

Wie ein roter Faden ziehen sich einige organisatorische, pädagogische und didaktische Prinzipien durch alle Rahmenricht-linien, vom Kindergarten bis zur Oberstufe, wenn auch unter Berücksichtigung des Alters der Lernenden und der Besonderheit der jeweiligen Bildungsstufe:

  • Flexibilität in der zeitlichen Strukturierung der Lernzeiten sowie der Stundentafeln;
  • Fächerübergreifende und fächerverbindende Lernangebote;
  • Wahlmöglichkeiten und Angebote für das Aufholen von Lernrückständen und zur Förderung besonderer Begabungen;
  • Maßnahmen der Individualisierung und Personalisierung;
  • Lernberatung und Dokumentation der Lernprozesse und Förderung der Reflexion des eigenen Lernens und der Übernahme von Verantwortung dafür;
  • Wertschätzung der Vielfalt;
  • Aktiver Einbezug der Lernenden in die Mitgestaltung des Lernens;
  • Schaffung einer anregenden Lernumgebung;
  • Einbezug der Erfahrungen und Kenntnisse der Schüler und Schülerinnen, auch jener, die sie außerhalb der Schule erworben haben;
  • Nutzung außerschulischer Lernorte;
  • Herstellen von Bezügen zur Lebenswirklichkeit der Schüler/innen;
  • Anknüpfen an die Erfahrungen der Schüler/innen und an ihre Lernbiografien.

 

Dabei können kooperative Lernmethoden und Helfer- und Tutorensysteme eine wertvolle Unterstützung darstellen. Überhaupt gilt es, viel mehr die Lehrkompetenzen der Schüler und Schülerinnen zu nutzen; von- und miteinander lernen stärkt nicht nur die Lern- und Sozialkompetenz der Schüler, es schafft auch Freiraum für Lehrpersonen, einzelnen Schülern und Schülerinnen mehr Zeit zu widmen.

Doch auch in einem so verstandenen inklusiven Schulsystem ist es notwendig, für bestimmte Gruppen von Schülern und Schülerinnen spezifische Rechte festzulegen: So gibt es auch weiterhin Bestimmungen für Schüler/innen mit einer Beeinträchtigung, für jene mit Migrationshintergrund und seit Neuestem auch für jene mit einer spezifischen Lernstörung (G. Nr. 170/2010). Diese Schüler und Schülerinnen bedürfen über die allgemeinen Formen der Differenzierung hinaus noch spezifischer Angebote, die auch entsprechende diagnostische, pädagogische und didaktische Kompetenzen auf Lehrerseite erfordern.

 

Was es noch zu tun gibt

Schüler/innen mit einer Beeinträchtigung gehören zu unserer Bildungslandschaft; sie haben unser Denken und Handeln geprägt, sowohl auf Seiten der Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen, als auch der Kinder, Schüler und Schülerinnen sowie der Eltern. Viele im Ausland beneiden uns um diese Situation, können sich ein einheitliches Schulsystem für die 11- bis 14jährigen gar nicht vorstellen. Und trotzdem sind einige Grundsätze, die bereits im Gesetz Nr. 517/1977 verankert waren, noch immer nicht für alle zur Selbstverständlichkeit geworden, so z. B.:

  • dass alle Lehrpersonen der Klasse gemeinsam die Verantwortung für  alle Schüler/innen der Klasse, also auch für die Schüler/innen mit Beeinträchtigung tragen;
  • dass Integrationslehrpersonen der Klasse zugewiesen sind und nicht in erster Linie für die spezifische Förderung der Schüler/innen mit Beeinträchtigung zuständig sind;
  • dass alle Schüler/innen ein Recht auf Teilhabe am gemeinsamen Lernen haben und dieses Recht nicht mit Begründungen - wie „im Ausweichraum kann sich der Schüler besser konzentrieren, er/sie kann dadurch besser gefördert werden, er kann am „Stoff“ der Klasse nicht mithalten“ - geschmälert werden darf;
  • dass Integration und Inklusion nur gelingen kann, wenn das Recht auf Personalisierung und Individualisierung des Lernens auch zu einem veränderten Verständnis von Unterricht für alle führt.

Ein Grund für diese Situation ist sicher auch die Tatsache, dass Italien die pädagogisch-didaktische Ausbildung der Lehr-personen lange Zeit sträflich vernachlässigt hat oder die spezifische Ausbildung im integrativen Bereich spezialisierten Lehrpersonen vorbehalten hat.

Der inklusive Gedanke hat bis heute noch kaum Eingang in die Ausbildung gefunden. Es gilt deshalb, massiv in eine gut fundierte Ausbildung aller Kindergärtner/innen und Lehrpersonen aller Bildungsstufen und für alle Fachrichtungen nach inklusiven Grundsätzen zu investieren. Dasselbe gilt auch für die Weiterbildung und im Besonderen für die Begleitung der Kindergarten- und Schulsprengel auf dem Weg hin zu einem inklusiven Kindergarten, zu einer inklusiven Schule. Hier kann der „Index für Inklusion“ (Boban, Hinz, 2003) einen wichtigen Beitrag zur Selbstevaluation der einzelnen Institutionen leisten. In Kürze wird auch ein Handbuch zum Einsatz des Index für Inklusion in unseren Kindergärten und Schulen – mit einer an die Situation in Südtirol angepassten Version – erscheinen.

Der Grundgedanke der Inklusion ist sicher in den Kindergärten und Grundschulen weiter verbreitet, weil er dort auch schon auf vielfältigere Entwicklungen und Erfahrungen zurückgreifen kann. In den weiteren Schulstufen nimmt die Komplexität der Inhalte, der zu erreichenden Kompetenzen zu und damit erscheint es auch schwieriger, Lernangebote so zu differenzieren, dass alle am gemeinsamen Lernangebot zielführend teilnehmen können. Keinesfalls kann die spezifische Förderung bestimmter Gruppen von Schülern nur an bestimmte Berufsbilder delegiert werden. Eine inklusive Didaktik muss stets Aufgabe und Verantwortung aller pädagogischen Fachkräfte und Lehrpersonen sein.

Alle unsere Rahmenrichtlinien sind auf den Erwerb von Kompetenzen und Fertigkeiten ausgerichtet; gerade dies erlaubt es, für die einzelnen Kompetenzen unterschiedliche Stufen der Komplexität vorzusehen und somit auch auf die individuellen Bedürfnisse und Ausganglagen besser einzugehen. Diese Arbeit ist für sämtliche Fachbereiche und Bildungsstufen zu leisten; z. T. sind bereits sehr gute Vorarbeiten durch das „Pädagogische Institut“ für alle Schulstufen geleistet worden. Sicher kann diese Aufgabe nicht von einzelnen Lehrpersonen geleistet werden. Auch gilt es Unterrichtsmaterialien so zu gestalten, dass sie Schüler/innen anregen und ihnen die Möglichkeit bieten, auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus und Zugängen sich mit Themen auseinanderzusetzen.

Tony Booth (2010, 4), mit Mel Ainscow Verfasser des Index für Inklusion, hat Inklusion als „einen nie endenden Prozess der zunehmenden Teilhabe aller Beteiligten, der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen“ bezeichnet, wobei die vorhandene Vielfalt einen grundlegenden Wert darstellt. Inklusion ist nach Booth nicht eine ideologische Modeerscheinung, sondern ein wertebesetztes Handeln, ein Grundrecht aller Menschen. „Wenn Inklusion nicht mit Werten verbunden ist, von denen man zutiefst überzeugt ist, dann mag das Streben nach Inklusion nur die Anpassung an eine vorübergehende Mode sein, oder eine offenkundige Befolgung von Anweisungen der nationalen und lokalen Regierung. Werte sind grundlegende Wegweiser und Aufforderungen zu handeln.“

Literatur

Autonome Provinz Bozen:

Landesgesetz zur Autonomie der Schulen, Nr. 12/2000

Rahmenrichtlinien des Landes für die Unterstufe. Beschluss der Landesregierung vom 19. Jänner 2009, Nr. 81  

Rahmenrichtlinien des Landes für die Festlegung der Curricula in den deutschsprachigen Fachoberschulen in Südtirol. Beschluss der Landesregierung vom 13. Dezember 2010, Nr. 2040

Booth, Tony (2010): Wie sollen wir zusammen leben? Inklusion als wertbezogener Rahmen für pädagogische Praxisentwicklung. http://www.kinderwelten.net/pdf/tagung2010/06_tony_booth_vortrag_dt_mit_fotos.pdf (Zugriff am 27.06.2012)

Brugger-Paggi, Edith (2012): Jeder Schüler hat ein Recht auf Bildungserfolg. Gemeinsames Lernen in Südtirol. In: Pädagogische Führung 1/2012, S. 8-11

Roser, Ludwig-Otto: Wer hat Angst vorm behinderten Schüler? Gemeinsam Leben und Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten in Italien. In: Jutta Schöler (Hrsg.) Normalität für Kinder mit Behinderungen: Integration, Luchterhand Verlag, Neuwied, Kriftel, Berlin 1998, S. 72

Edith Brugger-Paggi, anerkannte Expertin und engagierte Verfechterin der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung, lehrt an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen in Brixen.
 

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