Plurale Ansätze zu Sprachen & KulturenDer gegenständliche Beitrag ist aus einer intensiven Lektüre neuester Sekundärliteratur im Bereich der „Interkultur“ und aus der forschungspraktischen Auseinandersetzung mit dem Thema „Mehrsprachigkeit und Mehrfachzugehörigkeit“ im Rahmen meines Forschungsdoktorats an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen entstanden. von Irene Cennamo
Die qualitativen Daten setzen sich schwerpunktmäßig aus narrativ-biografischen Interviews mit 12- bis 14jährigen Jugendlichen erster Migrationsgeneration zu ihren bisherigen Bildungsgeschichten und aus Unterrichtsbeobachtungen an deutsch- und italienischsprachigen Sekundarschulen ersten Grades zusammen. Die bisherigen Auswertungen veranschaulichen die Bildungs-verläufe und schulischen Sozialisationserfahrungen der Befragten, die in Folge der familiären Migration mit ca. 8 bis 10 Jahren in Südtirols Schulen eingeschrieben wurden und nun die Sekundarstufe ersten Grades in Bozen, Brixen oder Sterzing besuchen. Die Analyse zielt auf die Rekonstruktion von schulischer Alltagspraxis und Erfahrungswissen der Erforschten in Bezug auf die erlebte Transition zwischen mindestens zwei Ländern und mehreren Schulen. Die Schule versteht sich so als beson-derer Erfahrungsraum: „Die Rekonstruktion (…) der Orientierungen der Befragten ermöglicht Rückschlüsse in Bezug auf die Erfahrungsräume, in denen diese entstanden sind. Erfahrungsräume werden dabei als Orte eines gemeinsamen Erlebens gedacht, das die Grundlage bietet für die Herausbildung kollektiver Wissensbestände und Orientierungen sowie habitueller Übereinstimmungen.“ (Bohnsack et al. 2007, 38–39)
Lebensweltliche Mehrsprachigkeit Die Jugendlichen schildern in den Interviews meist ein multilinguales Umfeld. Dieses ist in ihren Erzählungen sozialräumlich klar getrennt. In der Familie werden meist zwei oder gar drei Sprachen gesprochen. Im Falle eines Jungen z. B. wird Ungarisch und Slowakisch gesprochen, mit der Cousine auch Deutsch. In der Schule spricht er ausschließlich Deutsch im Unterricht, Dialekt im Pausenhof und ein wenig Italienisch und Englisch.
Phänomen der monolingualen Habitualisierung Ernüchternd ist dann die tiefer greifende Analyse der episodenhaften dichten Beschreibungen der Jugendlichen, wonach sie sich mehr an der perfekten Einsprachigkeit (und damit meinen sie entweder Deutsch oder Italienisch) der gleichaltrigen Mitschüler/innen orientieren, im Bestreben so bald wie möglich „gleich wie die anderen“ zu sein. Beispielhaft ist dafür die Beschreibung einer Schülerin, die nun 12 Jahre alt ist und erst seit 2 Jahren in Südtirol lebt. Bis zu ihrem 10. Lebensjahr sprach sie Spanisch. Sie behauptet von sich, dass sie jetzt Spanisch nicht mehr sprechen könne. Sie erklärt dies damit, dass sie seit zwei Jahren ausschließlich Italienisch spricht und sich die spanische Sprache einfach abgewöhnt habe. Die Telefongespräche mit ihrem Vater, der in Ecuador geblieben ist, verlaufen wortkarg und sind ihr mittlerweile peinlich. Nach ihrer Wahrnehmung kann man in Zeit und Raum jeweils nur eine Sprache sprechen. Dies entspricht, so meine Annahme, der kollektiven Orientierung und habituellen Übereinstimmung in Hinblick auf die Existenz von institutionellem Monokulturalismus in Südtirol.
Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen In der Mehrheit der Erzählungen beschreiben sich die Jugendlichen als „Ausländer/in – straniero/a“ und empfinden sich selbst trotz lebensweltlicher Mehrsprachigkeit niemals als mehrsprachig. Was die Zielsprachen Deutsch oder Italienisch anbelangt – interessanterweise nennen die Schüler/innen jeweils nur eine Landessprache, nie die lokale Zweisprachigkeit oder gar Dreisprachigkeit oder globale Mehrsprachigkeit als anzustrebendes Ziel – empfinden sich etliche Kinder immer als unzureichend und defizitär im Können und wollen diese eine Sprache unbedingt besser beherrschen und darin „perfekt“ sein. Nun kann in dieser verkürzten Form nicht ausführlich über die gesamten Ergebnisse der Studie berichtet werden. Wichtig erscheint mir allerdings die aktuelle Tendenz in dem wissenschaftlichen Mainstream und in der neuen Konzeptualisierung universitärer Lehrerausbildungen (momentan erst noch in Österreich und Deutschland), sich intensiver mit pluralen Ansätzen zu Sprachen und Kulturen auseinanderzusetzen. Diese beziehen sich nämlich auf die Überwindung der Auffassung von Sprach-kompetenz als monolinguale und monokulturelle Kompetenz(en) der Lernenden. Diese Erweiterung resultiert aus der Definition der mehrsprachigen und plurikulturellen (interkulturellen) Kompetenz im „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“. Diese Kompetenz bildet sich nicht additiv aus, etwa als eine „Ansammlung von eigenständigen und voneinander getrennten Kommunikationskompetenzen, je nachdem, welche Sprachen man kennt, sondern vielmehr über eine einzige mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz, die das gesamte Spektrum der Sprachen umfasst, die einem Menschen zur Verfügung stehen“ (Europarat 2001: 163). Hans-Jürgen Krumm und Hans Reich, zwei hervorragende Experten im Bereich „DaF/DaZ und interkulturelles Lernen“, arbeiten gerade an der Entwicklung eines Curriculums für Mehrsprachigkeit in der Lehrerausbildung in Österreich. Ingrid Gogolin und ihr Wissenschaftlerteam forschen seit Jahren besonders im Raum Hamburg u. a. über die Merkmale der Bildungssprache (vgl. dazu die Materialien zu FörMig). Die pluralen Ansätze bilden die notwendige Grundlage aller didaktischen Bestrebungen zum dauerhaften Aufbau der mehr-sprachigen und plurikulturellen Kompetenz der Lernenden. Dabei werden alle bereits vorhandenen sprachlichen und kulturel-len Kompetenzen einbezogen, die Lernende im schulischen und außerschulischen Kontext erworben haben. Ein gutes Beispiel dafür ist das Europäische Sprachenportfolio. Leider berichtet aber keines der befragten Kinder von seiner Teilnahme daran. Mir scheint auf der Basis der Analyse der Bildungsgeschichten der befragten Jugendlichen, dass trotz mehrfacher Bemühungen vieler Akteure doch noch beträchtlicher Aufholbedarf besonders darin besteht, den Kindern an unseren Schulen genügend Spielräume zu ermöglichen, wo sie ihre pluralen und mehrsprachigen Selbstkonzepte inszenieren, präsentieren und dynamisch gestalten können. Diese Erfahrungsräume fördern eine konfliktreduzierte Persönlichkeitsentwicklung und Ich-Identität in der Adoleszenz. Auch erziehen diese Ansätze alle Kinder und Jugendliche gemeinsam zur Schaffung einer ambiguitätstoleranten, empathischen und solidarischen Gesellschaft.
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