"Ich bin wertvoll!"Selbstwert gilt als Erfahrung und Wissen darüber, wer wir sind. Ein geringes Selbstwertgefühl ist das, was ein sehr unsicheres, ängstliches Kind und ein Kind, das andere schlägt, gemeinsam haben. Das eine Kind macht sich kleiner, als es ist, und das andere macht sich selbst größer, als es ist. Damit ein Kind „sich selbst wertvoll fühlt“, benötigt es geeignete Rahmenbedingungen, die sowohl zu Hause als auch in der Schule garantiert sein sollten. von Doris Kaserer
„Ich bin wertvoll, wie ich bin“ ist ein äußerst bedeutsamer Satz, weil er von einem gesunden Selbstwert zeugt. Sich wohl fühlen mit sich selbst und in sich selbst ruhen sind Ausdruck eines gut entwickelten, gesunden Selbstwertes. Wenn ein Kind in seiner Integrität geachtet wird, wenn die gegenseitigen Grenzen respektiert werden und die Beziehungs-ebene zwischen Erwachsenen und Kind gut ist, wird ein Kind in seinem Selbstwertgefühl unterstützt, weil es merkt: Ich werde ernst genommen, ich habe hier meinen Platz. Dies gilt fürs Elternhaus genauso wie für die Schule. Kinder, die mit einem gefestigten Selbstwertgefühl in die Schule kommen, haben es in der Regel leichter als ängstliche oder unsichere Kinder. Sie gehen mit Herausforderungen normalerweise souveräner um, knüpfen leichter soziale Kontakte und haben weniger Schwierigkeiten mit Ausgrenzung. Sie wissen nämlich, dass sie in Ordnung sind, wie sie sind. Sie haben ein gutes Gefühl für sich selbst entwickeln können. Sie sind stark, innerlich stabil und spüren, was und wer ihnen gut tut oder nicht. Haben Kinder hingegen ein geringes Selbstwertgefühl, zeigt sich dies in ihrem Verhalten und in ihrem Charakter entsprechend: Es gibt Kinder, die so gut wie unsichtbar werden, sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen oder von anderen regelmäßig genervt oder gar gemobbt werden. Und es gibt jene Kinder, die andere Menschen, inklusive Lehrpersonen, ständig nerven oder ärgern. Diese Kinder zweifeln an ihrem eigenen Wert, machen sich selbst innerlich schlecht und haben schon oft die Erfahrung gemacht, dass ihre Integrität – mehr oder weniger massiv – verletzt worden ist.
Verantwortung für Beziehungsqualität Kinder brauchen in der Schule Sicherheit und Halt, was durch die Erwachsenen garantiert werden sollte. Abgesehen davon, dass Kinder in einem angenehmen, wohlwollenden Umfeld leichter und erfolgreicher lernen, ist es für die Stärkung ihres Selbstwertgefühls grundsätzlich wichtig, dass Erwachsene eine gute Beziehung zu den Kindern aufbauen und dafür sorgen, dass sich die Kinder in der Klassengemeinschaft wohl fühlen. Laut dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul sind immer die Erwachsenen für die Qualität der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern verantwortlich. Es geht laut Juul darum, die persönliche Verantwortung für diese Qualität nicht nur dann zu übernehmen, wenn ein Kind angenehm und pflegeleicht ist, sondern auch und besonders dann, wenn es mit einem Kind Schwierigkeiten gibt. Wie kann dies konkret ausschauen? Nehmen wir an, der 12jährige Nick verweigert sich regelmäßig in der Schule, bringt keine Hausaufgaben mit und stört im Unterricht. Schimpfen, gutes Zureden, Drohungen, Strafen – nichts davon hat bisher geholfen. Was tun? Die Lehrperson könnte Nick auf die Seite nehmen und ihm Folgendes sagen: „Nick, ich kenne dich nun seit einiger Zeit und habe alles Mögliche versucht, um dich zu einer konstruktiven Mitarbeit zu bewegen. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Es ist mir nicht gelungen, zu dir eine gute Beziehung aufzubauen. Das tut mir leid. Ich brauche jetzt deine Hilfe. Was können wir tun?“ Dieses Gespräch erfordert laut Juul vom Erwachsenen Mut zum Eingeständnis, dass es ihm bisher nicht gelungen ist, zum Kind eine gute Beziehung aufzubauen. Und es erfordert die Einsicht, dass es seine Aufgabe ist, diese Situation zu ändern. Diese Verantwortung könnte das Kind gar nicht übernehmen. Erst recht nicht, wenn es sein Leben lang Kritik und Herabsetzung erfahren und somit gar keine Ahnung davon hat, wie Beziehungen qualitätsvoll gestaltet werden können. Aus genau diesem Grund ist es auch realistisch anzunehmen, dass Nick auf die Anfrage der Lehrperson erstmal keine Antwort weiß bzw. ablehnend reagiert. Zu oft hat Nick womöglich schon die Erfahrung gemacht, dass Erwachsene viel reden, ohne dass sich für ihn wirklich etwas verändert. Die Lehrperson kann also zu Nick sagen: „Ich kann verstehen, dass du jetzt so schnell keine Antwort geben kannst/willst. Denk aber bitte darüber nach, was du von mir brauchst, um in der Schule besser mitmachen zu können, bzw. was ich dazu beitragen kann, dass es dir besser geht. Ich werde dich in den nächsten Tagen nochmals danach fragen.“
Erwachsene als Leuchttürme Dürfen Erwachsene Kindern überhaupt noch sagen, wo’s lang geht? Ja, unbedingt! Kinder brauchen Erwachsene, die die Führung übernehmen. Es braucht Erwachsene, die wie Leuchttürme sind und ab und zu Signale senden, an denen sich die Kinder orientieren können. Kinder brauchen Erwachsene, die ihre eigenen Grenzen kennen und aufzeigen. Aber wie können Erwachsene das tun, ohne dabei andere in ihrer Integrität zu verletzen? Wenn Erwachsene durch das Verhalten eines Kindes an ihre eigenen Grenzen stoßen, dürfen und sollen sie ihm sagen, was sie an seinem Verhalten stört und worüber sie sich ärgern. Wesentlich ist dabei, zwischen dem Kind als Person und seinem Verhalten zu unterscheiden: Das Kind kann leichter mit Kritik an seinem Verhalten umgehen, wenn Erwachsene gleichzeitig signalisieren: „Als Mensch bist du für mich wertvoll.“ Es geht darum, dass die Erwachsenen keine verallgemeinernde Sprache, sondern eine klare, persönliche Sprache verwenden und dabei möglichst einen respektvollen Ton anschlagen. Sätze wie „Musst du immer mit Kreiden werfen?“ oder „Man wirft nicht mit Kreiden!“ kommen weniger gut an; sie klingen anklagend bzw. belehrend. Es ist wirkungsvoller zu sagen: „Ich will nicht, dass du mit den Kreiden wirfst.“ Kinder fordern Erwachsene durch ihr Verhalten auf, klar Position zu beziehen. Sie wollen wissen, wo die Grenzen ihres Gegenübers sind. Sie begnügen sich nicht mit Erwachsenen, die irgendwelche Rollen spielen, z. B. die Rolle der Lehrperson, der Mutter, des Vaters. Sie wollen authentische Erwachsene, die ihnen von Mensch zu Mensch begegnen, an denen sie sich orientieren, an denen sie sich aber auch reiben können. Erwachsene sind aufgefordert, die eigenen Grenzen abzustecken, die eigene Meinung zu äußern, die persönlichen Werte zu vermitteln und in der eigenen Mitte zu sein. Und immer dann, wenn Erwachsene Kindern helfen, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, stärken sie gleichzeitig auch ihr eigenes.
|
INFO
|
---|