Die philosophische Tagung

Seit über zehn Jahren führen die Klassenräte der fünften Klassen am Klassischen und Sprachengymnasium „Beda Weber“ (Gymnasien Meran) fächerübergreifende Unterrichtsprojekte mit einem philosophischen Schwerpunkt durch. Die Philosophie übernimmt eine Vermittlungsrolle zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen und konkretisiert philosophi-sche Methoden in den besonderen Unterrichtsformen einer philosophischen Tagung.

von Bernhard Windischer

 

Nach dem frühen Wittgenstein bedeutet Philosophie etwas, „was über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften steht.“ (Tractus Logic-Philosophicus 4.111) Philosophische Aktivitäten entwickeln sich demgemäß unter verschiedenen Perspektiven (z.B. ontologischer, ethischer oder erkenntnistheoretischer Natur) in einer engen Wechselbeziehung zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften.

Das Konzept der philosophischen Tagung trägt dieser Wechselwirkung durch die Wahl einer Thematik Rechnung, welche die Darstellung und philosophische Reflexion wissenschaftlicher Problemfelder enthält. Wenn das Thema „Tod“ gewählt wird, erarbeitet der Naturkundelehrer mit den Schüler/inne/n wesentliche Erkenntnisse der biologischen Altersforschung (z. B. Telomere, Lebenserwartung verschiedener Lebewesen), während im philosophischen Teil Unsterblichkeitskonzepte oder Fragestellungen nach der Wünschbarkeit und den Folgen der Suche nach Unendlichkeit in den Mittelpunkt gerückt werden.

Integrationswissenschaft Philosophie

Beim Thema „Wissenschaft und Ethik“ erlernen die Schüler/innen Grundlagen der Genetik und die Entwicklung des Embryos, um eine fundierte Diskussion ethischer Fragestellungen abwickeln zu können. Die philosophischen Überlegungen zielen auf eine Klärung zentraler Begriffe, die im naturwissenschaftlichen Kontext häufig unreflektiert eingesetzt werden (wie beispielsweise die Begriffe Person, Bewusstsein oder Freiheit).

Im Rahmen der Thematik „Gehirn und Geist“ erfüllt die Philosophie ihre Funktion als Integrationswissenschaft, indem sie die Bedeutung naturwissenschaftlicher Experimente (wie das Libet-Experiment)  analysiert oder auf die Unvereinbarkeit der Ergebnisse der Neurowissenschaften mit dem gegenwärtigen Menschenbild hinweist.     

Vermittlungsrolle der Philosophie

Die philosophische Tagung betont die aus dem Bildungsprofil des Klassischen Gymnasiums abgeleitete Vermittlungsrolle der Philosophie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Latein und Griechisch eröffnen einen historisch-altphilologischen Zugang, z. B. beim Thema „Tod“ mit einer Analyse des Seneca-Textes zum Ableben des Sokrates. In den modernen Fremdsprachen werden Fachbegriffe vermittelt oder literarische Verarbeitungen diskutiert.

Im Durchschnitt sind drei bis vier Fächer an der Gestaltung und Durchführung einer philosophischen Tagung beteiligt, wobei die Abwicklung der Themen Kopräsenz erfordert.

Inhalte und Zeit im Einklang

Um ein entsprechendes fächerübergreifendes Arbeiten zu ermöglichen, wird der zeitliche und räumliche Rahmen des herkömmlichen Unterrichts aufgelöst. Die Klasse begibt sich für drei Tage in Begleitung der Lehrpersonen an eine ruhige Lokalität. Die ersten philosophischen Tagungen fanden auf der Zanser Alm und im Bildungshaus in St. Helena im Ultental statt. Für ein optimales Ambiente sorgte in den letzten Jahren das Schwesternheim in Völs am Schlern. Erfahrungsgemäß bedeutet die Veränderung des räumlichen Umfeldes und die Herstellung eines atmosphärisch angenehmen gemeinsamen Lernortes einen Neuigkeitswert, der in der Regel die Motivation positiv zu beeinflussen imstande ist. Um die Ernsthaftigkeit des reflexiven Tuns zu unterstreichen, werden die Lerninhalte in das Programm der fünften Klasse aufgenommen.

Die Veranstaltung des Unterrichts außerhalb des Klassenzimmers verändert den Unterricht insofern, als dass in größerem Ausmaße die zeitliche Gestaltung an die Lerninhalte angepasst werden kann. Verlängerungen oder Verkürzungen bestimmter Einheiten sind ebenso möglich wie das Einschieben von Aktivitäten und neuen Inhalten.

Die Arbeitszeit gliedert sich in eine Vormittags-, Nachmittags- und Abendeinheit. Letztere werden beispielsweise für theatrales Philosophieren oder die Vorführung und Diskussion von Filmausschnitten genutzt. 

Philosophische Methoden

Räumliche und zeitliche Variabilität erleichtert den Einsatz verschiedener Unterrichtsformen, was den Faktor Abwechslung steigert. Ein zentrales Element sind die phänomenologisch zu erfassenden Erlebnis- und Umgangsformen mit der von den Schüler/inne/n mitbestimmten Thematik. Philosophische Tagungen bieten durch ihre besondere Struktur Gelegenheit zur Diskussion eigener Erlebnisformen,  Erfahrungen und Erwartungen, z. B. im Umgang mit der eigenen Endlichkeit.  Die Auseinandersetzungen gehen in ein von den Schüler/inne/n gestaltetes Produkt (z. B. szenische Darstellung, Essay, kleiner Film) ein. Bei der historisch-kritischen Auslegung von Texten werden hermeneutische Zugangsweisen zu einem Thema angestrengt.

Synthese von Theorie und Praxis

Die philosophische Tagung betreibt eine Synthese von Theorie und Praxis. Bei der oben genannten Tagung zum Thema „Tod“ unternahmen wir eine Exkursion zu einem Bestattungsunternehmen. Eine sectio eines Kalbhirnes unter Anleitung eines Neurochirurgen leitete die philosophische Tagung zum Thema „Geist und Gehirn“ ein. Im praktischen Tun (z. B.  Sezieren eines Gehirns) werden philosophische Aktivitäten wie Begriffsklärungen, die kritische Auseinandersetzung mit Vorannahmen oder die Formulierung philosophischer Fragestellungen (z. B. „Bin ich mein Gehirn?“) in Gang gesetzt.

 

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