Verzerrter Philosophiebegriff

 

Seit ca. zwei Jahren sind wir Lehrkräfte  in den Südtiroler Oberschulen mit einer völlig veränderten curricularen Struktur konfrontiert. Seitens  der Landesregierung wurden dem Unterrichtsbetrieb die neuen Rahmenrichtlinien vorgesetzt.

von Urban Stillebacher

 

Man kann diesbezüglich insofern von einem gewissen brachialen Gestus sprechen, als die inhaltliche Ausrichtung und die Struktur der Programme nicht zur Debatte standen. Indessen ist, so wie ich meine, gerade die Struktur ein neuralgischer Punkt für die Philosophie, weil sie jene in das Korsett von Kompetenzen-Kenntnisse-, sprich Zweck-Mittel-Relationen presst.

 

Italienische Philosophietradition: Stärken und Schwächen

Wie wir alle wissen, war die Oberschulreform in Südtirol eine Reaktion auf die Veränderungen im Schulsystem auf nationaler Ebene. Durch die „Riforma della Scuola Secondaria Superiore“ 2010 hatte die italienische Regierung mit der streitbaren Unterrichtsministerin Gelmini an vorderster Front ein neues Kapitel italienischer Oberschulgeschichte aufgeschlagen. Diese Reform war jedoch kein Umsturz, sie zielte mehr auf strukturelle Reorganisationen (Nuovi licei, i Nuovi tecnici e i Nuovi professionali) als auf  Neuerungen in den Curricula. Daher bleibt z. B. das Programm für Philosophieunterricht, dem ich im Vergleich zu jenem der neuen Rahmenrichtlinien viel Positives abgewinnen kann,  klar erkenntlich der Matrix der humanisti-schen Tradition verhaftet. In den allgemeinen Bildungszielen gibt es gemessen an früheren Konzeptionen eine spürbare Kontinuität; es ist zwar auch von Kompetenzen die Rede (die ja ohnehin zu jedem Lehrplan gehören), aber in einer völlig anderen Anordnung als in den Rahmenrichtlinien: „La conoscenza degli autori e dei problemi filosofici fondamentali dovrà aiutare lo studente a sviluppare  la riflessione personale, l’attitudine all’approfondimento e la capacità di giudizio critico.” Folgt man dieser didaktischen Argumentation, so kommen erstens formal betrachtet die Inhalte (Theorien und Konzepte der Meisterdenker im Kontext der Philosophiegeschichte) vor den Kompetenzen, zweitens wird die philosophische Tradition, weitgehend chronologisch aufbereitet, als fruchtbarer und unverzichtbarer Bezugspunkt im Unterricht angesehen und nicht als Steinbruch, aus dem man am Leitfaden der Fertigkeiten (fast) beliebiges Material herausklopfen kann.

Es soll an dieser Stelle jedoch angemerkt sein, dass ich die italienische Philosophiedidaktik nicht pauschal verteidigen möchte. Das gesamtstaatliche Unterrichtsprogramm für Philosophie an den Gymnasien bzw. Lyzeen war vor der letzten Reform auch ein Exempel für Antiquiertheit. Der Lehrplan des gymnasialen Unterrichts, welcher ausgehend von heutigen Standards nicht einmal die Bezeichnung „Curriculum“ verdienen würde,  ging auf die faschistische Ära zurück und hatte seit dieser Zeit kaum substanzielle inhaltliche oder formale Veränderungen erfahren. Aufgrund der nicht durchgeführten Updates blieben Tendenzen der Gegenwartsphilosophie im „programma ministeriale“ völlig ausgespart. Und was das Zentrale ist: Die puristische Form des historiographischen Unterrichts, welcher die Ideengeschichte nur als ein Defilee von Meinungen präsentiert, ist meiner Meinung nach vollständig out, unter anderem auch deshalb, weil ein so gearteter „didaktischer“ Zugang Lehrkräfte und Schüler/innen in angenehmer Weise von jeder Anstrengung der thematischen Erörterung philosophischer Denkfiguren dispensieren würde.

Gerade wegen der unbestreitbaren Schwächen in der italienischen Bildungsarchitektur ging in den 1990er Jahren eine Philosophie-Arbeitsgruppe im Pädagogischen Institut daran, die Weichen für den Philosophieunterricht neu zu stellen. Der konzipierte Lehrplan nahm Abstand von der erstarrten Tradition und damit auch vom rein historiographischen Unterricht, ohne allerdings einen definitiven Schlussstrich unter dem historisch gefärbten Unterricht zu ziehen. Er postulierte zwar generell den philosophiehistorischen Duktus im Unterricht, öffnete aber gleichzeitig die Perspektiven dezidiert in Richtung von (aktuellen) Themen. Somit verfügten die deutschsprachigen Lyzeen und Gymnasien Südtirols seit dieser Zeit über einen innovativen didaktischen Kompass.

Die Ausarbeitung des Lehrplanes war logischerweise von zahllosen Debatten begleitet, sie kostete viele Mühen und  Anstrengungen (und vermutlich nicht wenige finanzielle Ressourcen).

Ist es nicht eine ungeheure Verschwendung von materiellen Mitteln und mentalen Energien, wenn ein gut austarierter Lehrplan nach etwa 15 Jahren dem Reformeifer zum Opfer fällt und einer neuen curricularen Mode Platz machen muss? Wäre angesichts der notorischen Reformdebatten in den letzten Dezennien vernünftige Bildungspolitik nicht daran zu bemessen, ob und inwieweit sie imstande ist, dem Reformfanatismus entgegenzuwirken und antizyklisch zu sein?

Reform um der Reform willen

Weil die Schule ein Gelenkstück in der Gesellschaft ist, ist sie der für den neoliberalen Zeitgeist leider typischen Reform-ideologie ausgesetzt. „Das Reformtempo“, konstatiert der in Wien wirkende Philosoph Konrad Paul Liessmann, „muss im Detail zu Skurrilitäten führen, denen ein kafkaesker Charme nicht abgesprochen werden kann.“ (Theorie der Unbildung, S. 170)

Die extrem beschleunigte und flexibilisierte Gesellschaft produziert Pendelbewegungen in einem frenetischen Rhythmus, spuckt permanent neue pädagogische Reizwörter, Konzepte der Bildung und Unbildung aus und stilisiert die Reform zu einer Ideologie als Ersatz für politische Programme. Abstellend auf die grassierende Reformwut konstatiert K. Liessmann  in einem etwas provokanten Stil, die „Reform“ sei mittlerweile zu einem Zauberwort geworden, welches nahezu alle Distrikte  des öffentlichen Lebens tangiert: „Die Reformphrase hat sich überall eingenistet, im Denken und in der Sprache, sie macht vor keiner Institution Halt, befällt Volksschulen ebenso wie Universitäten, entlegene Polizeiposten genauso wie Regierungssitze, Versicherungen so gut wie Verkehrsbetriebe. […] Entweder man steckt in einem Reformstau… oder man hat gerade eine notwendige Reform hinter sich, die nichts anderes nach sich ziehen kann als weitere notwendige Reformvorhaben.“ (Theorie der Unbildung, S. 162)

 

Der europäische Qualifikationsrahmen

Stellt man sich die Frage, warum die Südtiroler Bildungspolitik die Oberschulreform mit einem derartigen pädagogischen Furor angegangen ist und damit die Curricula  beinahe vollständig aus der italienischen Unterrichtstradition herausgelöst hat (geblieben ist eine relativ generöse Stundentafel für den Philosophieunterricht), liegt die Antwort beim genaueren Hinsehen auf der Hand. In den neuen Rahmenrichtlinien schält sich ein didaktischer Bezugspol heraus, der im Europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen verankert ist. Im Frühjahr 2008 einigten sich das Europäische Parlament und der Rat darauf, einen EQR zu institutionalisieren. Er sollte den Mitgliedstaaten als unverbindliche Empfehlung gelten. Der EQR hatte u. a. die Funktion, die auf berufliche Ausbildung fixierten Qualifikationssysteme der Mitgliedstaaten vergleichbarer und verständlicher zu machen. Nun haben  „Vergleichbarkeit“ und „Verständlichkeit“ nichts mit pädagogischen Argumenten zu tun, sie sind bestenfalls politisch relevant.

Trotzdem erscheint es generell plausibel, wenn im Bereich der berufsbezogenen Ausbildung der EQR  Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten hervorhebt. Ebenso nachvollziehbar ist in diesem Fall die Vorrangigkeit der Kompetenzen vor den Lerninputs, vor den „Inhalten“ des Ausbildungsplans, da primär die Lernergebnisse, d. h. die erworbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zählen.

Die bildungspolitisch brisante Frage ist allerdings, ob ein der Berufsausbildung entlehntes Setting beliebig und didaktisch sinnvoll auf alle Schullandschaften übertragbar ist, ob ein emphatisch beschworener Qualifikationsbegriff z. B. für allgemein-bildende Schulen mit einer starken Präsenz geisteswissenschaftlicher Fächer überhaupt tauglich ist, sind es doch die Disziplinen, welche für sich mit Recht Bildungsziele jenseits von pragmatischen Anforderungen reklamieren.

Ist der Tischler mit einem philosophietreibenden Schüler vergleichbar? Eignet sich philosophische Reflexion überhaupt für die didaktische Aspektierung gemäß dem Muster von Kompetenzen, wie sie in einem Qualifikationsrahmen definiert sind?

Die Warnung  Nietzsches scheint, falls wir ihren elitären Grundton weglassen, nichts an Aktualität eingebüßt zu haben: Für die Institutionen zur „Überwindung der Lebensnot“ (sprich berufliche Ausbildung)  „gelten aber jedenfalls andere Gesetze und Maßstäbe als für die Errichtung einer Bildungsanstalt: und was hier erlaubt, ja so geboten wie möglich ist, dürfte dort ein freventliches Unrecht sein.“

 

Die Südtiroler Variante

Die Südtiroler Bildungspolitik hat, wie mir scheint, aus den Empfehlungen des Europäischen Parlaments und des Rates einen fixen Startpunkt für einen didaktischen Neubeginn gemacht. Die Rahmenrichtlinien des Landes zur Festlegung der Curricula zitieren nicht nur den Europäischen Qualifikationsrahmen (was die Definitionen von Kenntnissen, Fertigkeiten, Kompetenzen betrifft), sondern sie atmen grosso modo den Geist des EQR. Dies ist vor allem an der formalen Struktur, an den fächerüber-greifenden Kompetenzen, aber z. T. auch am Katalog der Kenntnisse ablesbar.

Gemünzt auf den Philosophie-Lehrplan führt das meiner Meinung nach zu einem verzerrten Philosophiebegriff.

  • Da die Fertigkeiten wie in einem Qualifikationsrahmen schon vorgegeben sind, kann es nur mehr einen instrumentellen Zugang zu den so genannten „Kenntnissen“ geben. Zu einem Zweck (Fertigkeiten) wird das Mittel (Inhalte) gesucht, jedoch das Mittel kann in der Regel nicht ein geschlossenes Denkgebäude eines Philosophen (deshalb sind ja auch keine philosophischen Autoren angegeben) sein, sondern nur Facetten eines Systems berücksichtigen (z. B. Anthropo-logie, Ethik, politische Philosophie). Damit ist die humanistisch grundierte Philosophiekonzeption ad acta gelegt und bedauerlicherweise eine „kopernikanische Wende“ hin zur (ausschließlich) problemorientierten Philosophiedidaktik vollzogen.
  • Es gibt nach meinem Dafürhalten nur wenige Rubriken, welche im Bereich der „Fertigkeiten“ eine „sanfte“ Kompetenz, ein denkerisches Sich-Einlassen auf Theorien beinhalten.
  • Bei den Kenntnissen werden mehrere Teilgebiete der Philosophie angegeben, jedoch ein fundamentaler Bereich wird nicht ausdrücklich erwähnt: die Erkenntnistheorie. Sie hat anscheinend wenig Affinität zu den „Lebensproblemen“ und wird vom pragmatischen Ansatz des Lehrplans desavouiert.

 

Wie ich den Bildungsauftrag verstehe

  • Philosophie kann von ihrem Grundverständnis her nicht zu einem schnell verfügbaren Werkzeugkasten für praxis-relevante Kompetenzen umfrisiert werden. Ihr wohnt bis zu einem bestimmten Teil die zweckfreie Suche nach Erkenntnissen bzw. ein kontemplatives Element inne, welches mit Distanzfähigkeit zu unmittelbarer Praxis verbunden ist. (Theoretische) Philosophie steht für die Kunst der Nachdenklichkeit, und die Geschichte der Philosophie stellt uns diesbezüglich ein reichhaltiges Angebot von paradigmatischen Denkprofilen zur Verfügung. Aus dieser Eigenart ergeben sich Ziele für den Unterricht, die mehr mit Denkabenteuern (die großen Etappen der Philosophiegeschichte abschreitend) als direkt mit Handlungsorientierung zu tun haben.
  • Philosophie muss nicht immer in Stromlinienform gebracht werden. Philosophie ist auch der Fasching des Geistes.
  • Philosophisches Wissen ist kein Produktionsfaktor, keine Rezeptologie für instrumentelles Handeln, trotzdem umfasst es auch Bereiche, die über die rein theoretische Denkarbeit hinausgehen und praxisorientierte Einstellungen (politische Philosophie, Medienkritik…)  vermitteln können. Philosophie liefert uns damit geistige Landkarten für Gebiete, die praktisch eminent wichtig sind wie z. B. die Ethik. Doch auch hier muss klar sein: Ethikunterricht kann nicht Reparatur-werkstatt für die Gesellschaft sein.
  • Zu den fachlichen Ansprüchen von Philosophie gehört aber auch, dass sie mehr ist als die Präsentation fertiger Gedankengebäude. Philosophieunterricht wird als Erziehung zum Selbstdenken aufgefasst, als Einführung in das Philosophieren. Und als Disziplin, welche aktuelle Themen aufzugreifen vermag.

In der Maturaklasse werden wir uns beispielsweise heuer mit der Occupy-Bewegung (Stéphane Hessel) und mit allen Varianten des modernen Körperkults befassen.

 

 
 

Urban Stillebacher unterrichtet Philosophie und Geschichte am Realgymnasium Bozen.

Im Bild: Bei der „wissnight 2012“  in Aktion mit der Lehrerband

 

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