Fragen sind nachhaltiger als Antworten

Umweltprobleme, Ressourcenknappheit, Klimawandel, Armut, soziale Ungerechtigkeit und Finanzkrisen machen uns deutlich, dass Änderungen notwendig sind, wenn wir in Zukunft eine lebenswerte Welt vorfinden wollen. Sollte auch das Lernen und der Unterricht hinterfragt werden? Und wie sollte Lernen erfolgen, damit es nachhaltig ist?

von Karin Dietl


Bildung für nachhaltige Entwicklung, die nachhaltiges Denken und Handeln vermittelt, im Besonderen aber auch anbahnt, muss an die Lebensstile unserer heutigen Gesellschaft anknüpfen. Der Einzelne muss Fähigkeiten mit auf den Weg bekommen, die es ihm ermöglichen, aktiv und eigenverantwortlich die Zukunft mitzugestalten.
Auch in den Rahmenrichtlinien der Südtiroler Schule (s. "Fachliche und überfachliche Richtlinien") wird immer wieder auf den Begriff der Nachhaltigkeit hingewiesen. Es müssen Lernsituationen konzipiert werden, die an den Lebens- und Erfahrungs-welten der Kinder und Jugendlichen ansetzen. Ausgehend davon können Lernende an globale Zusammenhänge und vernetzte Strukturen herangeführt werden.

Neue didaktische Ansätze


Um die genannten Ziele zu erreichen, sind neue didaktische Ansätze erforderlich, bei denen Kinder und Jugendliche an der Gestaltung und Auswahl von Unterrichtsthemen beteiligt sind und gemeinsam mit anderen Lernenden Lösungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung erarbeiten.


Für einen Kompetenzzuwachs wenig förderlich sind „vorgefertigte“ Projekte, die von Lehrpersonen vorbereitet und geplant werden und ein- bis zweimal im Schuljahr stattfinden. Ein regelmäßiges Einbeziehen der Kinder und Jugendlichen in den Unterricht ist unerlässlich; sie selbst müssen die Hauptakteure sein und ihr Lernen in die Hand nehmen, indem sie Inhalt, Verlauf, Vorgangsweise, Präsentation und Endprodukt selbst wählen. Die Lehrperson wird dabei als Begleiter/in zur Verfügung stehen, was gewiss auch als sehr anspruchsvolle Aufgabe anzusehen ist, aber eben ein neues Lernverständnis voraussetzt.
Wenn wir einen nachhaltigen Unterricht anstreben, so müssen wir unbedingt auch über Kompetenzorientierung und über Konstruktivismus sprechen und diesen beiden Komponenten Rechnung tragen.

Kompetenzorientierung und Nachhaltigkeit

Mit nachhaltigem Lernen ist in erster Linie der Kompetenzbegriff verbunden. Soziale Kompetenz z. B. bedeutet, dass ein Mensch unter anderem in ausreichendem Maß über Selbstwertgefühl oder Selbstbestimmung verfügt.


Für Kinder und Jugendliche bedeutet Kompetenzorientierung, dass sie zu handlungsfähigen Individuen heranwachsen, was so viel bedeutet, dass sie zielorientiert handeln und das erworbene Wissen in neue Situationen übertragen können.


Seit den internationalen Schulleistungsstudien wurden neue Begrifflichkeiten geschaffen und der Kompetenzbegriff steht seither im Zentrum pädagogischer Überlegungen. Wenn Wissen, Fähigkeit, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung und Motivation netzartig zusammenwirken, so kann von individueller Kompetenz gesprochen werden.


Der Kompetenzbegriff nach F. E. Weinert besagt z. B. Folgendes: Ausgehend von den verfügbaren und erlernten Fähigkeiten und Fertigkeiten und von den motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten entwickelt der Mensch Problemlösungen, die er in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzt. Dabei stehen die verfügbaren und erlernten Fähigkeiten und Fertigkeiten im Wechselspiel mit den motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten: Ein Kind erlernt bestimmte Fähigkeiten und mit Hilfe von Motivation werden diese gesteigert, was wiederum dazu motiviert, sich weiterhin einzulassen und in variablen Situationen Problemlösungen erfolgreich und verantwortungsvoll zu entwickeln.

Konstruktivismus und Nachhaltigkeit


In einem zweiten Moment sehen wir uns nun den konstruktivistischen Lernbegriff an: Lernen ist ein aktiver Prozess, bei dem sich Kinder und Jugendliche neues Wissen nicht aneignen. Sie konstruieren es vielmehr selbst, so dass es an die vorhandenen individuellen Konstrukte angeschlossen wird. Wissen entsteht nur, wenn das neue Wissen sich an die alten Konstruktionen anschließen lässt. Da jeder Lernende seinen eigenen Zugang zum Lernstoff hat, ergeben sich daraus unzählige Wege und Methoden, sich Wissen anzueignen.


Der Erwerb von Wissen ist kein Informationstransfer, sondern kann nur von den Lernenden selbst ausgehen, daher muss ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich am Lernprozess aktiv zu beteiligen. Wahrnehmung und Erkennen sind mentale Prozesse, die von den Lernenden individuell auf der Grundlage ihres jeweiligen Vorwissens aufgebaut und zu einem Gebilde individueller Realität kreiert werden. Lernende sollten nicht mit Antworten, sondern mit Fragen konfrontiert werden. Lernschwierigkeiten in der Lehr-Lernsituation erfordern vom Lehrenden, sich intensiver damit auseinanderzusetzen, und vom Lernenden, sich effizienter mit dem Thema auseinanderzusetzen.


Bei der Aufbereitung des Stoffes geht die Lehrperson nicht schrittweise vom Einfachen zum Komplizierten, sondern ermöglicht den Kindern und Jugendlichen die Konstruktion einer Grobstruktur, die im Laufe des Lernprozesses immer detaillierter wird und das weitere Lernen unterstützt. Die Lehrperson gibt nicht nur Informationen vor, sondern erarbeitet mit den Kindern und Jugendlichen zusammen das Thema in verschiedenen Formen, um einerseits verschiedene Herangehensweisen aufzuzeigen und andererseits möglichst viele Lernwege bereitzustellen, wobei gleichzeitig die Möglichkeit der Reflexion gegeben sein soll.

Nachhaltigkeit im Unterricht messen


Woran kann aber Nachhaltigkeit gemessen werden? Dies ist sicherlich ein komplexer Prozess. Könnte man nachweisen, dass Kinder, die „nachhaltigen“ Unterricht erfahren haben, im Erwachsenenalter Berufe ergreifen, die sie zu zufriedeneren Menschen machen oder zu Individuen mit einem hohen Maß an Sprachfähigkeit, Menschenkenntnis, Toleranz, Kommunika-tionskompetenz, intrinsischer Motivation oder sozialer Kompetenz herangewachsen sind, so könnte mit Sicherheit von einem nachhaltigen Unterricht gesprochen werden.

Wenn ich an unseren Unterricht in den reformpädagogisch orientierten Schulen denke, so sehe ich viele Ansatzpunkte, die Nachhaltigkeit gewährleisten.

Literatur

Arnold, Rolf: Ich lerne, also bin ich. Eine systemisch-konstruktivistische Didaktik. Heidelberg: Carl-Auer 2012


Michelsen, Gerd/Siebert, Horst/Lilje, Jan: Nachhaltigkeit lernen. Ein Lesebuch. Frankfurt: VAS Verlag 2011


 
Karin Dietl ist Lehrerin an der Grundschule Prad und unterrichtet in reformpädagogischen Klassen.

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