Basis wird in früher Kindheit gelegt

 

Bei dem Wort „Bildung“ denken viele Menschen unwillkürlich an die Vermittlung von Wissen und von fachlichen Kompetenzen. Der Persönlichkeitsaufbau ist aber ebenfalls ein Teil von Bildung und Erziehung. Nachhaltigkeit setzt eine starke Persönlichkeit mit hoher ökologischer und sozialer Verantwortung voraus. Die Basis für den Aufbau der Persönlichkeit und für Nachhaltigkeit wird in der frühen Kindheit gelegt.

von Freya Pausewang

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) hat am 20.12.2002 für die Jahre 2005 bis 2014 die Weltdekade 'Bildung für nachhaltige Entwicklung' ausgerufen. Das Ziel der Weltdekade ist es, allen Menschen Bildungschancen zu eröffnen, die es ihnen ermöglichen, sich Wissen und Werte anzueignen sowie Verhaltensweisen und Lebensstile zu erlernen, die für eine lebenswerte Zukunft und eine positive gesellschaftliche Veränderung im Sinne der Nachhaltigkeit erforderlich sind.“ (www.bne-portal.de). Diese Dekade wird in Deutschland von der Kultusministerkonferenz unterstützt.

In diesem Zusammenhang ruft die Deutsche UNESCO-Kommission zu Projekten und Bildungsinhalten in allen Bildungs-einrichtungen einschließlich Frühpädagogik auf. 2010 hat sie eine Broschüre herausgebracht, die sich an Kindergärten und deren Entscheidungsträger wendet: „Zukunftsfähigkeit im Kindergarten vermitteln: Kinder stärken, nachhaltige Entwicklung befördern“. Darin fordert sie, dass Nachhaltigkeit in Kindergärten deutlicher umgesetzt und gelebt wird. (www.bne-portal.de/elementarpaedagogik  - dort an dritter Stelle). Freilich setzt das voraus, dass die Erzieherinnen und Erzieher die Ziele verinnerlicht haben und sie in voller Überzeugung auch im Alltag umsetzen. Projekte allein genügen nicht.

Unser Planet ist in Gefahr!

Die Überschrift ist nicht übertrieben! Die globale Menschheit steckt zurzeit in schwersten Krisen, für die keine schnell greifenden Bewältigungsstrategien vorhanden sind. Zu diesen Krisen gehört vor allem die ökologische Erdentwicklung mit den gefährlichen Veränderungen des Klimas, die zum Verlust von fruchtbarem Boden durch Wüstenbildung und Überschwemmun-gen führen. Pflanzen- und Tierarten sterben aus, die Lösung von Giftmüllproblemen wird in die Zukunft verschoben. Diese Krisen haben nicht nur fatale Auswirkungen auf die verarmten Länder, sondern werden auch die Industrieländer schädigen und sie zu veränderten Lebensformen zwingen. Wenn soziales Denken keine Globalisierung erfährt, wovon bisher leider nichts zu erkennen ist, werden Kriege um Ressourcen nicht auszuschließen sein. Es geht auch um noch mehr als um die augenblick-liche Weltbevölkerung. Nachhaltige Entwicklung strebt ein Verhalten der Menschen an, das das Lebensrecht der jetzigen und der zukünftigen Menschen weltweit würdigt und erhält.

Basisbildung Nr. 1

Damit ist der Aufbau einer starken Persönlichkeit gemeint. Die Zukunft (auch die Gegenwart) braucht starke Menschen, die die großen Herausforderungen wahrnehmen und sich ihnen stellen. Wir brauchen eine Mehrheit der Bevölkerung, die global denkt und in ihrem Lebensstil globale Auswirkungen berücksichtigt, eine Mehrheit, die nicht aufgibt, sondern die überlebenswichti-gen Ziele verantwortlich verfolgt und dabei den eigenen Komfort zurückstellt. Für die Persönlichkeitsentwicklung und eine stabile Resilienz (Widerstandkraft) sind die frühen Jahre ausschlaggebend. Deshalb ist es überaus wichtig, dass sich Erzieher/

innen um den Aufbau von Stärke bemühen, von Durchhaltekraft, von Verantwortung und gewissenhafter Mitbestimmung (Partizipation). Konkret bedeutet eine Stärkung der Persönlichkeit im Kindergarten unter anderem:

  • Anstrengungs- und Lernbereitschaft stärken und wachhalten

Kleine Kinder haben einen starken Drang, Dinge selbst zu tun: „Ich, ich!“ oder „Allein!“ rufen Zweijährige, wenn die Erwachsenen sie anziehen oder füttern wollen. Diese Anstrengungsbereitschaft nimmt unnötigerweise ab, wenn Erwachsene vorschnell Leistungen für sie erledigen oder ihnen Lernwege und Problemlösungen verfrüht zeigen. Kleine Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen Leistungen zutrauen und zumuten und ihre Selbstwirksamkeitserwartung (das Zutrauen, selbst etwas bewirken zu können) steigern.

  • Zum Erkennen von Zusammenhängen anregen, insbesondere im sozialen und ökologischen Kontext

Wo immer möglich und sinnvoll, öffnet die Erzieherin den Blick des Kindes für Hintergründe und Zusammenhänge. Dabei verwendet sie eher Impulse als Anweisungen. Sie wird z.B. nicht sagen: „Lass Ali bitte mitspielen, Marie!“, sondern vielleicht zunächst: „Ali sieht traurig aus. Wer hat eine Idee, wie wir ihm helfen könnten?“ Die Erzieherin wird soziale und ökologische Zusammenhänge, die für das Kind verstehbar sind, besonders beachten. Wenn sich etwa eine Biene in den Raum verirrt hat und gegen die Scheibe fliegt, erklärt die Erzieherin vielleicht, dass die Biene nicht wissen kann, dass die durchsichtige Scheibe eine unsichtbare Mauer ist. Vielleicht kommt ein Kind auf die Idee – oder erinnert vom letzten Mal – dass man den Rollladen herunterlassen und die Tür zum Spielhof öffnen kann, damit sie den Weg findet.

  • Initiative der Kinder wahrnehmen und unterstützen

Die Erzieherin bestärkt das Kind, wenn es Situationen beobachtet und bewertet, insbesondere, wenn es Initiative ergreift, um etwas Unbefriedigendes zu verändern, etwa wenn es ein weinendes Kind tröstet oder einen Regenwurm vom trocken werdenden Asphalt rettet und in feuchte Erde trägt. Besondere Aufmerksamkeit wird die Erzieherin dabei wieder auf soziale und ökologische Verhaltensweisen des Kindes richten. Partizipation (Mitbestimmung) der Kinder wird das Zusammenleben der Gruppe stark bestimmen.

  • Stärken stärken

Glücklicherweise erkennt die Pädagogik heute, dass die Entwicklung der Kinder weit erfolgreicher und stabiler verläuft, wenn der junge Mensch in seinen Stärken wahrgenommen und unterstützt wird und nicht in seinen Defiziten. Wenn die Erzieherin dem Kind Stärken rückmeldet, verweist sie auf Erfolge und bestätigt das Kind. Der Blick auf Defizite macht dem Kind dagegen Mängel bewusst und verlangt, dass das Kind sich dort anstrengt, wo es nur mühsam Erfolge erreicht. Die Lust am Lernen wird dadurch reduziert und nicht erhöht. Sie wird nachlassen. Die Zukunft wird aber von den Menschen lebenslange Lernfähigkeit und Lernmotivation verlangen.

Basisbildung Nr. 2

Sozial-ökologisch verantwortliches Denken/Handeln leben und vermitteln ist das, was unter Basisbildung Nr. 2 zu verstehen ist. Es sind vorrangig drei Bereiche, die ein Team bei der Entwicklung seiner Konzeption hinsichtlich Nachhaltigkeit unter die Lupe nehmen und durchdenken wird:

  • Sozial und ökologisch betonte Alltagsgestaltung
  • Unterstützung der sozialen und ökologischen Kompetenzen im Freispiel
  • Gezielter Einfluss über Projekte
  •  Sozial-ökologische Alltagsgestaltung

Das Team muss sich sehr intensiv bewusst machen, wo und wie im Tagesablauf soziales und ökologisches Verhalten konkret umgesetzt und mit den Kindern gelebt werden kann. Überzeugendes Verhalten können Erzieher/innen aber nur vermitteln, wenn sie selbst voll hinter ihren Entscheidungen und Anleitungen stehen. Im sozialen Bereich werden die meisten Erzieher/

innen die notwendige Haltung weitgehend verinnerlicht haben, etwa das Denken und Handeln der Gruppenmitglieder häufig vom Ich zum Wir zu lenken, anzuregen, dass Minderheiten einen sicheren Platz in der Gruppe einnehmen oder dass die Mädchen und Jungen sich mit kleinen Aufgaben für die Gruppengemeinschaft einsetzen. Schwieriger dürfte für viele Erzieher/

innen dagegen die Umsetzung einer überzeugenden ökologischen Grundhaltung sein. Wissen allein reicht dafür nicht aus. Das kennen wir nur zu gut, wenn wir daran denken, dass das Wissen über Schäden durch die Klimakrise in der Bevölkerung vorhanden ist, Lebensformen, die weniger CO2 erzeugen, sich aber kaum durchsetzen, etwa sparsamer Verbrauch von Ressourcen, fleischarme Ernährung, geringeres Wegwerfverhalten.

 

  • Betreuung des Freispiels

Leider wird das Freispiel oft nur als Pausenfüller angesehen. Das Freispiel ist aber ein Teil im Tagesablauf, der für das Kind eine hohe Bedeutung für nachhaltige und soziale Bildung bietet: Im Freispiel suchen sich Kinder Spielpartner und finden sich in Spielgruppen zusammen. Hier lernt das Kind, mit Kooperation und Konkurrenz, mit Dominanz und Unterordnung umzu-gehen. Es erfährt Gleichberechtigung und Partizipation. Es richtet sich in seinem Spiel nach sozialen und ökologischen Regeln, die in der Tagesstätte die Richtung weisen. Ob ein Kind sich in der Einrichtung wohlfühlt, wird stark von seinem Zurecht-kommen und Anerkanntsein im Freispiel abhängen. Wohlgefühl in der Einrichtung ist aber äußerst wichtig. Denn: Konsum erzeugt bei den meisten Menschen Wohlgefühl. Um davon loslassen zu können, braucht der Mensch andere Quellen für sein Glücklichsein. In allen Kulturen bietet das (nichtmaterielle!) Geben und Nehmen in Gruppen eine Quelle für Zufriedenheit und Wohlgefühl. Der Kindergarten vermittelt auch hier wieder die Basis: Im selbstbestimmten Spiel mit kleinen Gruppen wächst das Kind an seinem Geben und Nehmen und erweitert seine sozialen Kompetenzen. Allerdings benötigt es dafür eine intensive Beobachtung und behutsame Lenkung.

 

  • Einfluss über Projekte

Auf Projekte will ich in diesem kurzen Artikel nicht weiter eingehen. Für diesen Bereich gibt es zahlreiche Anregungen im Internet und bei Fachverlagen. Projekte haben auch nur dann eine wirkliche Wirkung, wenn sie eine Vertiefung bieten oder vielleicht auch die auslösende Anregung für ein aktuelles nachhaltiges Verhalten. Das kann z.B. geschehen, wenn eine Kindergruppe Recyclingpapier herstellt und dadurch zu Sparsamkeit bei Verbrauchsgütern veranlasst wird oder wenn sie Marmelade kocht und Pflanzenableger zieht, um mit dem Verkaufserlös weit entfernten, in Not geratenen Menschen zu helfen. Bei diesem letzten Beispiel will das Team das soziale Denken der Kinder über den eigenen Tellerrand erweitern und in Richtung Globalität anstoßen.

Fazit

Die frühpädagogischen Bildungseinrichtungen müssen weit intensiver personell ausgestattet werden: einerseits mit mehr Personal, zum anderen durch gründliche Aus- und Fortbildung der pädagogischen Fachkräfte. Wenn die Entscheidungsträger für die elementaren Bildungseinrichtungen, vorrangig die Kultusministerien, die hohe Bedeutung der Basisbildung nicht deutlicher wahrnehmen und für entsprechende Personalausstattung sorgen, sind die Erzieher/innen nicht in der Lage, diese breiten Aufgaben zu erfüllen. Wichtige Entwicklungsjahre des Kindes bleiben ungenutzt. Die Schule kann dann nicht auf eine stabile Grundlage aufbauen. Da in der Schule das gemeinsame Leben nicht in gleicher Weise im Mittelpunkt des Gruppen-lebens steht wie in der Tagesstätte, kann sie kaum nachholen, was im Kindergarten versäumt wurde. Und wir wissen: Die Zeit drängt! Oder besser gesagt: Wir wissen nicht, welche Folgen wir auslösen, wenn wir uns Zeit lassen.

 

Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Erziehung und Bildung zu Zukunftsfähigkeit finden Sie in:

Pausewang, Freya: Macht mich stark für meine Zukunft - Wie Eltern und Erzieherinnen die Kinder in der frühen Kindheit stärken können. München: oekom verlag 2012

 

Freya Pausewang ist Erzieherin, Sozialpädagogin, Dozentin a. D. an der Fachschule für Sozialpädagogik in Mainz und Fachautorin mit Veröffentlichungen zur Berufsausbildung von Erzieherinnen und zur Erziehung in der frühen Kindheit. Email: F.Pausewang@t-online.de

 

THEMA