Auf welche Wirtschaft soll die Schule vorbereiten?

 

Adam Smith hat als Mitbegründer der Ökonomie als einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin die theoretischen Grundlagen für ein neues Wirtschaftsmodell geliefert: Wenn der Einzelne auf seinen größtmöglichen wirtschaftlichen Vorteil bedacht ist, führt sein wirtschaftliches Handeln – wie von unsichtbarer Hand geleitet – zum größtmöglichen Wohl der Gemeinschaft.

 

von Martin Daniel

 

Damit hat Smith nicht nur die Funktionsweise des Marktes gemäß dem zu seiner Zeit dominanten wirtschaftlichen Denken beschrieben, sondern letztlich auch eine moralische Rechtfertigung für eigennütziges Handeln geliefert. Wie könnte man das Streben nach persönlichen Vorteilen verdammen, wenn es zugleich das Wohl der gesamten Gesellschaft mehrt?

Es war die Zeit der Industriellen Revolution in England, und der Liberalismus beherrschte das wirtschaftliche und politische Denken. Kapitaleigner produzierten erstmals in industriellen Dimensionen und vermehrten ihre Vermögen durch Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskräften. Die soziale Frage musste erst geboren werden, Arbeiterrechte, Umweltschutz und Solidarität mit armen Ländern waren völlig unbekannt. In der Folge überzogen Briten und später Amerikaner in einer Art wirtschaftspolitischem Darwinismus die Welt mit ihrem Wirtschaftsmodell. Der Niedergang des Kommunismus war die ultimative Bestätigung für dessen Überlegenheit.

 

Mensch als Marktteilnehmer

 

Das Modell des Homo Oeconomicus, des wirtschaftlich vernünftig handelnden Menschen, entstammt dieser historischen Entwicklung. Der Mensch als berechnender Marktteilnehmer, der alle Vor- und Nachteile seiner Aktionen rational und unter Ausblendung emotionaler Einflüsse abwägt, um stets dem größtmöglichen Nutzen nachzujagen: als Unternehmer dem größtmöglichen Gewinn, als Verbraucher der größtmöglichen Bedürfnis-befriedigung. Das ist das Modell von Ökonomie, das unseren Jugendlichen als Grundlage der Volkswirtschaft und als Kern der Betriebswirtschaft vermittelt werden muss. Kostenminimierung, Nutzenmaximierung, Wettbewerb auf freien Märkten und Kartellbildungen auf von wenigen Unternehmen beherrschten Märkten sind Schlüsselbegriffe. „Grundlagen und Zusammenhänge wirtschaftlichen Handelns der Haushalte und Unternehmen erkennen und aufzeigen“, „Einflussfaktoren und Wechselwirkungen von Angebot und Nachfrage erkennen und grafisch darstellen, Vor- und Nachteile der verschiedenen Marktformen aufzeigen“, so lauten die Fertigkeiten im Fach Volkswirtschaft (Rahmenrichtlinien für das 2. Biennium an Wirtschaftsfachoberschulen in Südtirol).

 

Idealistische Botschaften

 

Als ehemaliger Schüler und als Lehrer habe ich mich gefragt, ob und inwiefern die Schule junge Menschen auf das Leben nach der Schule vorbereitet. In allen Schulstufen und Fächern wurden mir als Schüler neben typisch schulischen Fertigkeiten und Kenntnissen Werte wie Respekt, Solidarität, Gerechtigkeit, Achtsamkeit vermittelt. Geld ist nicht alles, Menschliches und Zwischenmenschliches sind wichtiger als materielle Dinge – so ungefähr lauteten die Botschaften, die uns in jenem Lebensabschnitt beigebracht wurden. „Das Auto ist nichts als eine Prothese unseres Körpers“, klärte uns ein Italienischlehrer am Gymnasium auf, die Brecht-Lektüre zeigte uns die hoffnungslos korrupte Seite des Menschen und der Deutschlehrer resümierte, dass Fortschritt und Wohlstand das Denken nicht veränderten, allein Autos und Häuser würden immer größer.

Diese idealistischen Botschaften sind mir bis heute – zwanzig Jahre später – hängengeblieben und haben meinen Blick auf die Dinge kritisch geschärft. Gleich nach der Matura wäre ich aber für Bewerbungsschreiben und Vorstellungsgespräche, auf Lohn- oder Vertragsverhandlungen mit erfahrenem Gegenpart nicht ausreichend gewappnet gewesen. Im Laufe der Zeit erkannte ich, dass sich die mir vermittelten Haltungen in bestimmten Situationen zu meinen Ungunsten auswirkten, und begann entsprechende Antikörper zu bilden. Das Leben ist der beste Lehrer in Sachen Selbstschutz als Eigennutz.

 

Widersprüchliche Prinzipien

 

Die Welt der wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen, der Arbeit und des Konsums (also die „Wirtschaft“) folgt anderen Prinzipien als jene, die Gesellschaft, Kultur, Bildung und – nicht zu vergessen – Religion transportieren oder jedenfalls zu meiner Schulzeit transportiert haben. Ausgaben minimieren, Einnahmen steigern, Preise verhandeln, Angebote vergleichen, sich gegen Konkurrenten durchsetzen – dies setzt die Einstellung des „Homo Oeconomicus“ voraus.

Die Vermittlung dieser „skills“, dieser Fertigkeiten, ist zu Recht Auftrag der heutigen Schule. Die Zahl der über-schuldeten Personen, darunter verstärkt auch Jugendliche, stieg in den letzten Jahren kontinuierlich; viele junge Arbeitskräfte, vor allem Frauen, sind in Mitarbeitergesprächen wenig selbstbewusst und verpflichten sich bei Lohnverhandlungen häufig unter Wert; gar einige Oberschulabgänger, hört man von einstellungswilligen Arbeitgebern, hinterlassen bei Bewerbungsschreiben einen negativen Eindruck. Solche Probleme werden heute offensiv angegangen, das Führen von Vorstellungsgesprächen, die Erstellung von Lebensläufen und Bewerbungsschreiben trainiert. Die Schule in Südtirol setzt nun massiv auf finanzielle Bildung an allen Schultypen. Die Vermittlung dieser Kompetenzen ist mittlerweile ebenso wichtig wie der Erwerb fachspezifischer Fertigkeiten.

 

Idealzustand versus Realzustand

 

Wenn wir den Protagonisten von morgen die Grundlagen der Betriebs- und Volkswirtschaft beibringen, so ist es unumgänglich vom rational (überlegt, aber eigennützig) handelnden Menschen auszugehen, um die Funktionsweise von Produktion, Konsum und Markt zu vermitteln.

Die Idealsituation des theoretischen Modells ist eine Marktform der freien Konkurrenz mit gleichberechtigten Marktteilnehmern. Der Wettbewerb beflügelt alle Beteiligten, ihr Bestes zu geben und führt zu optimaler Ressourcenverteilung und Innovationen, die den Wohlstand der Gesellschaft erhöhen. In Wirklichkeit gibt es kaum freie Märkte, sondern nahezu alle Branchen werden von „Big Playern“ beherrscht, die die Spielregeln diktieren. Häufig beeinflussen Staaten und internationale Organisationen die Rahmenbedingungen. So verzerren Regierungen das Verhältnis zwischen Hersteller und Verbraucher auf dem Lebensmittelmarkt, wenn sie der Nahrungsmittelindustrie in Europa erlauben, an den Grenzwerten für ihre Produkte mitzuschreiben und transparente Verpackungsaufschriften verhindern. Die Agrarsubventionen der EU verzerren den Weltmarkt und treiben Bauern in Afrika mit Dumpingpreisen in den Ruin. In vielen Entwicklungsländern kaufen Konzerne für die Bevölkerung dank zweifelhafter Abkommen mit den Regierungen gewinnbringend die ihrem Territorium entnommenen Rohstoffe in marktkonformer Aufmachung zurück.

 

Marktversagen

 

Billigflüge bieten vorzüglichen Anschauungsunterricht für Wettbewerbsverzerrung und staatliche Interferenzen. Steuererleichterungen und Subventionen für Flughäfen und Fluglinien stellen klare Bevorzugungen gegenüber dem Bahnverkehr dar. Zudem enthalten die Ticketpreise nicht die Kosten der Auswirkungen des Flugverkehrs auf das Weltklima – ein typischer Fall von Marktversagen: Im Zuge des Produktionsprozesses verursachen private Unternehmen Schäden für Außenstehende oder die Allgemeinheit, ohne für deren Kosten aufkommen zu müssen.

Der Themenbereich Globalisierung eignet sich für grundsätzliche Überlegungen zum bestehenden Wirtschafts-system. Profitieren die Menschen in den ärmeren Regionen der Welt oder sind diese erneut die Verlierer? Sind fehlende Sozialstandards in Entwicklungs- und Schwellenländern eine notwendige Reibungserscheinung auf dem Weg zu größerem Wohlstand oder eine moderne Form der Versklavung? Betrachtet unser Wirtschaftssystem Menschen als reines (Human-) Kapital? Führt es zu einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung? Rentiert Kapital mehr als Leistung? Ist Konkurrenz wichtiger als Kooperation?

 

Konstruktionsmängel

 

Die unsichtbare Hand konnte zu Zeiten Adam Smiths wohl nur deshalb zum Wohl aller (Briten) wirken, weil der Staat durch seine Kolonialpolitik die heimische Wirtschaft massiv begünstigte. Genauso wie fehlende Gewerkschaften und Sozialstandards schon bald die Konstruktionsmängel des Manchester-Liberalismus zu Tage beförderten (körperliche und psychische Ausbeutung der Arbeiter, starke Luft- und Gewässerverschmutzung) und den Staat zu einer ersten Korrektur zwangen, bedarf auch das Modell des auf Nutzenmaximierung bedachten „Homo Oeconomicus“ in der schulischen Vermittlung einer Neuausrichtung. Es gilt die Grundidee des heilsamen Wettbewerbs in eine sozial- und umweltverträgliche Version zu übersetzen und eine Art Homo Oeconomicus-reloaded als zukunftsfähige Alternative für die wirtschaftliche Ausbildung der Jugendlichen zu schaffen.

 

Alternativen lehren                                                                                                   

 

Grundeinkommen, Wohlstand ohne Wachstum, soziale und ökologische Nachhaltigkeit in allen Aspekten des wirtschaftlichen Handelns, Gemeinwohlökonomie, zinslose Geldsysteme, Regionalwährungen, genossenschaft-liche Produktions- und Einkaufsgenossenschaften, alternative Wohlstandsindikatoren wie der Human Development Index oder die unter Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz ausgearbeiteten Indikatoren könnten einige der Ansätze sein. Anhand solcher Themen können Schüler ihre Urteils- und Kritikfähigkeit ebenso trainieren oder anwenden wie die Fähigkeit, komplexe Systeme zu erfassen, Vor- und Nachteile kritisch abzuwägen, sich im Dialog eine Meinung zu bilden und diese angemessen zu äußern.

Und die Rahmenrichtlinien verlangen von den Lehrkräften auch, das Modell der freien Marktwirtschaft einer kritischen Prüfung zu unterziehen: Die Schüler sollen „grundlegende Zusammenhänge in der Volkswirtschaft erkennen, aktuelle Problemstellungen analysieren und Lösungsansätze erörtern, die wirtschaftspolitischen Entscheidungen und deren Folgen beschreiben und dazu Stellung nehmen, (...) Fachtexte und Berichte zu rechtlichen und wirtschaftlichen Themen kritisch hinterfragen und die eigene Meinung dazu äußern; die Stärken und Schwächen der verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Regelungen analysieren und die Auswirkungen auf den Einzelnen, den Arbeitsmarkt und die Umwelt aufzeigen, Ziele und Instrumente der Außenhandelspolitik thematisieren, internationale Handelsabkommen beschreiben, Vor- und Nachteile der Globalisierung diskutieren“.

 

Antikörper bilden

 

Wir können den Schülerinnen und Schülern gerade in den Wirtschaftsfächern die nötigen „Antikörper“ gegen eine eindimensionale Sicht von Wirtschaft und „Wert“-schöpfung mitgeben. Dies ist wohl auch ein gesellschaftlicher Auftrag. Denn die Welt der wettbewerbszentrierten Wirtschaft, in die sie früher oder später geworfen werden, stellt ihnen diese Antikörper nicht im selben Maße zur Verfügung, wie sie ihre Maximierungsprinzipien entfaltet.

 

   
   

Martin Daniel unterrichtet Recht und Wirtschaft am Oberschulzentrum Mals.

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